Der globale Erfolg japanischer Comics, deren kulturelle Wurzeln und die besondere Faszination endloser Bildgeschichten – über diese Themen und mehr spricht Ludwig Greven mit Kai-Steffen Schwarz, dem Programmleiter Manga beim Carlsen Verlag.

Ludwig Greven: Manga bedeutet übersetzt Comic. Was unterscheidet diese japanischen Comics grundsätzlich von westlichen?

Kai-Steffen Schwarz: Auf dem internationalen Comic-Markt gibt es natürlich stilistische Annäherungen zwischen West und Ost. Manga hat historische Vorläufer in der japanischen Kultur. Das geht zurück bis ins 12. Jahrhundert. Die Chojugiga, Schriftrollen mit Zeichnungen, gelten als Vorläufer sowohl für Manga als auch Anime, die japanischen Zeichentrickfilme. Als Publikationsform, wie wir sie heute kennen, sind Manga seit den 1960er Jahren entstanden. Das Besondere ist auch die japanische Leserichtung von hinten nach vorne, und sie sind in der Regel schwarz-weiß. Das hat im Wesentlichen ökonomische Gründe. Denn die Erstpublikation erfolgt in einfach gedruckten preisgünstigen Magazinen für unterschiedliche Alters- und Interessengruppen. Die Manga-Geschichten werden dort kapitelweise zuerst veröffentlicht, wöchentlich oder monatlich. Die Magazine haben bis zu mehrere Hundert Seiten Umfang, die von verschiedenen Künstlern gefüllt werden. Das sind eine Art Soap-Packages, wie Soap-Operas im Fernsehen. Anders als amerikanische oder europäische Comics sind das keine abgeschlossenen Geschichten. Wenn das Publikum sie gut findet, werden sie fortgesetzt. Am Ende können sie bis zu mehrere Tausend Seiten umfassen. Die beliebtesten werden als Bücher veröffentlicht.

Bestanden die historischen Vorläufer auch schon aus Bilderserien und Text?

Das waren Holzschnitte mit einzelnen Zeichnungen. Im 19. Jahrhundert gab es Manga genannte Skizzensammlungen. Als Story-Manga mit vielen Zeichnungen, die eine Geschichte erzählen, sind sie ein Produkt der Neuzeit.

Was waren die Gründe, dass sich das nach der Öffnung des Landes im 19. Jahrhundert und besonders nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg und der US-Besatzung entwickelt hat?

Künstlerisch hat das im Wesentlichen ein Zeichner geschaffen, Osamu Tezuka. Er hat unendlich viel gezeichnet und gilt als Vater des Story-Manga. Er wurde wiederum von Disney und expressionistischen Filmen aus Deutschland und Frankreich beeinflusst. Umgekehrt hatten japanische Comics und Trickfilme Rückwirkungen auf die westlichen. Deutsche Animationsserien wie »Wickie und die starken Männer« und »Biene Maja« wurden in den 1960er und 1970er Jahren vom ZDF und ORF bei japanischen Firmen in Auftrag gegeben. In Japan hatte sich da bereits ein Millionenmarkt entwickelt.

Gibt es für die massenhafte Verbreitung von Manga spezifische gesellschaftliche oder kulturelle Gründe?

Die visuelle Kultur hat in Japan einen wesentlich höheren Stellenwert. Schon die japanische Schriftsprache ist bildlich. In Deutschland und anderen westlichen Kulturen gilt eher das geschriebene Wort. Die Form als billige Wegwerf-Lektüre hat zum einen damit zu tun, dass damit ein großes Publikum erreicht werden sollte. Zum anderen damit, dass es zunächst im Großraum Tokio entstand. Die Wohnungen dort sind sehr klein. Da ist kaum Platz, um etwas aufzubewahren.

Es gibt eine Vielzahl von Manga-Zeichnern und sehr unterschiedliche Formen und Genres.

Das hat sich im Lauf der Zeit aufgegliedert in sehr viele Subgenres, von Manga für Kinder über Science-Fiction bis zu Manga speziell für Erwachsene. Zum Teil auch nach den unterschiedlichen Künstlerinnen und Künstlern. Das Besondere im Vergleich zum hiesigen Markt ist auch, dass sie eher industriell produziert werden. Zuerst erscheinen sie in einem der Magazine, und wenn sie erfolgreich und beliebt sind, was immer wieder abgefragt wird, werden sie weitergeführt. Wenn nicht, werden sie beendet, und es kommt eine neue Serie an ihren Platz. Das Denken ist vom Publikum her. Auch innerhalb der Magazine für die einzelnen Zielgruppen gibt es ganz unterschiedliche Genres vom alltäglichen Leben bis zu Fantasy. Es gibt auch Sach-Manga.

Manga wird in Japan von der Regierung und Politik gefördert. Weil es, anders als Comics bei uns, als Teil der offiziellen Kultur gesehen wird?

Unter dem Motto »Cool Japan« wird Manga als Mittel der nationalen Selbstdarstellung von der Regierung unterstützt. Die gesamte japanische Popkultur gilt weltweit als Soft Power, ein Sympathiefaktor. Und sie lockt Touristen an, was für das Land sehr wichtig ist. Selbst das Interesse an der japanischen Sprache ist durch Manga und japanische Trickfilme gestiegen.

In den Manga wirken die Figuren nach unseren Vorstellungen häufig niedlich, mit großen Augen und kindlichen Zügen. Hat auch das eine kulturelle Tradition?

Diese verniedlichende Form findet man auch im japanischen Alltag. Wenn man beispielsweise in ein Café geht, hat die weibliche Bedienung eine andere Stimmlage als sonst. Alles ist sehr auf Höflichkeit und Freundlichkeit aus. Es gibt in den Manga aber große Unterschiede. Je mehr sie sich an Erwachsene richten, desto realistischer sind die Zeichnungen. Dass sie bei uns insgesamt als niedlich wahrgenommen werden, hängt damit zusammen, dass zuerst die Titel für Kinder importiert wurden.

Wann sind Sie selbst zuerst mit Manga in Berührung gekommen?

Anfang der 1990er Jahre, als ich um die 20 war und die Manga in Deutschland auf den Markt kamen. Schon als Kind war ich Comic-Fan, habe die »Lustigen Taschenbücher« von Disney gelesen, »Asterix«, »Lucky Luke«, »Tim und Struppi«, also die frankobelgischen Comics.

Weshalb wurden Manga damals importiert?

Auslöser war ein japanischer Zeichen-trickfilm, »Akira«, der in den USA für Furore sorgte. Man sah, dass Manga in Japan bereits sehr erfolgreich waren. Man hat diese dann allerdings verwestlicht, etwa die Leserichtung umgestellt, und sie in Abstimmung mit den Zeichnern koloriert. Ab Ende der 1990er Jahre wurden dann auch erste Buchserien mit der Leserichtung von hinten nach vorn veröffentlicht, bei Carlsen als erstem Verlag die längere Serie »Dragon Ball«, die es heute noch gibt. Das Witzige ist, dass man fast dazu gezwungen war. Denn dem Comic ging es damals hier nicht so gut. Man wusste aber, »Dragon Ball« ist in anderen Ländern erfolgreich, z. B. in Frankreich. Der Zeichner bestand jedoch darauf: Wenn das hier erscheinen sollte, dann in japanischer Leserichtung. Der Erfolg der Manga hat sicher auch damit zu tun, dass das endlich wieder etwas für das junge Publikum war, mit der man die Elterngeneration verwirren konnte. Wenn die Eltern schon den gleichen Musikgeschmack hatten, konnten sie sich damit von ihnen differenzieren.

Manga werden oft in Tausenden Bildern und in potenziell endloser Fortsetzung erzählt. Widerspricht das nicht der heutigen eher schnelllebigen westlichen Kultur gerade bei jungen Menschen?

Das ist ein interessanter Punkt, zumal man auf die Fortsetzung warten muss. Das liegt wohl zum einen an der speziellen visuellen Form und Erzählweise. Wer wie viele heute bei uns generell an Visuellem interessiert ist, ist auch dafür zu begeistern. Zum anderen ist es ein Interesse an den Charakteren, mit denen sich die Leser identifizieren und deren Geschichte sie folgen wollen. Im Gegensatz zu westlichen Comics, die immer wieder bei null anfangen und wo die Figuren klar definiert sind, entwickeln sie sich. Sie werden älter, sie können sich mit anderen Figuren befreunden oder verfeinden, Kinder kriegen, sterben. Selbst wenn die Geschichte fiktional ist, hat es eine Konsequenz. Insofern ist es lebensnäher. Es gibt auch viele ambivalente Charaktere, nicht die typischen Gut-Böse-Schemata wie in westlichen Comics und Superhelden- oder Hollywood-Filmen. Sie haben immer auch Schwächen, die zum Ausdruck kommen.

Japanische wie andere fernöstliche Kultur wird bei uns ja sonst eher als exotisch und fremd wahrgenommen. Ist der Erfolg der Manga auch ein Zeichen kultureller Globalisierung?

Auch in Japan gibt es großes Interesse an westlicher Kultur und Popkultur. Die gilt dort zum Teil als exotisch. Gleichzeitig werden die alten Künste hochgehalten. Animationsfilme z. B. haben dort eine lange Geschichte. Die lassen sich leicht übertragen. Ein Manga-Fan ist aber nicht automatisch generell an Japan und der dortigen Kultur interessiert.

Manga gibt es längst auch von westlichen Zeichnern. Sind das nur Adaptionen, oder hat sich da wiederum eine eigene Comic-Form entwickelt?

Das ist natürlich am Vorbild orientiert, aber es gibt da inzwischen sehr eigene Formen. Dem Publikum ist es meist egal. Ein wesentlicher Unterschied: Manga-Zeichner bei uns können – anders in Japan und wie generell bei Comics – in der Regel davon allein nicht leben. In Japan haben sie zum Teil Assistenten, um jede Woche Dutzende Seiten abliefern zu können.

Sind Sie bei westlichen Manga mit dem Vorwurf der kulturellen Aneignung konfrontiert worden?

Kulturen beeinflussen sich immer gegenseitig. Aneignung wäre es dann, wenn eine Zeichnerin oder ein Zeichner hier einen Manga produziert, das im heutigen Japan spielt, ohne jemals dort gewesen zu sein und das Leben da nicht kennt. Das wäre nicht authentisch, weil es nicht die kulturellen Erfahrungen berücksichtigt. Das würden wir als Verlag nicht machen.

Neuerdings verbreiten sich auch Comics aus Korea in Europa und den USA sehr stark. Sind sie von Manga inspiriert?

Das ist ursprünglich wohl daran angelehnt. Die heute populären koreanischen Webtoons sind aber in der Regel in Farbe, haben zunächst meist nur kurze Kapitel und werden nicht in Magazinen, sondern in digitaler Form erstveröffentlicht. Man scrollt von unten nach oben. Auch in Japan werden inzwischen zwei Drittel der Manga-Umsätze digital erzielt.

Wird man als Verleger von Comics und Manga von anderen Verlagen eigentlich ernst genommen?

Es gibt sicher einige, die sagen, »Wir machen seriöse Literatur, ihr nur komische«. Das ist aber auch eine Generationsfrage. Wenn man, wie ich, mit dem Medium aufgewachsen ist und es mag, gibt es da in der Regel keine Vorbehalte.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2023.