Anfang der 2000er Jahre zog ich ins Stadtviertel Florentin im Süden von Tel Aviv. Es war Ende der 1920er Jahre an der Grenze zu Jaffa gegründet worden. Anfangs hatten es hauptsächlich Neueinwanderer aus Griechenland, der Türkei und aus Buchara bevölkert. Ende der 1960er Jahre ließen sich Handelsunternehmen und kleinere Gewerbebetriebe wie Tischlereien und Polsterwerkstätten nieder und so blieb es im Viertel jahrelang. Wie in vielen Fällen von Gentrifizierung setzte die Veränderung in der Street-Art ein. Ein Viertel, das damals vom Zentrum weit entfernt lag und in dem es beengt zuging, zog Street-Art-Künstler an, da es weder vom Ordnungsamt noch von der Polizei überwacht wurde. Die Street-Art konnte sich in ihrer Pracht ungestört entfalten und es gelang ihr in einem Maße, dass Besucher extra anreisten, um sie zu betrachten. In der Folge eröffneten Cafés, Freizeitstätten, Galerien und Boutiquen. Von da an ist es bis zu neuen Bauprojekten und der Verteuerung von Wohnraum ein kurzer Weg. Florentin im Speziellen und Tel Aviv im Allgemeinen boten Freiraum für Kunst und die Street-Art begann sich einen Platz als populäres künstlerisches Medium zu erobern.

Vor den 2000er Jahren waren Street-Art und Graffiti-Kunst in Israel kaum wahrnehmbar. Ein bekanntes Graffito wurde im Unabhängigkeitskrieg an ausgebrannten Lkw-Wracks in Sha’ar HaGai auf dem Weg nach Jerusalem angebracht. Der Palmach-Kämpfer Baruch Jamili schrieb mit heißem Teer auf Blech: »Palmach, Baruch Jamili, Petach Tikwa, 1948«. Die Inschrift wurde zum Mythos, denn sie verewigte den Ort, an dem viele gefallen waren. Seitdem gab es in Israel wenig andere Graffiti zu sehen, erst Anfang der 1970er Jahre nahmen sie zu, konnten allerdings mit der Komplexität und dem Farbreichtum der Graffiti in den großen amerikanischen Städten oder an der Berliner Mauer nicht mithalten.

In den 1980er Jahren erhielt der junge Künstler Rami Meiri von der Stadtverwaltung Tel Aviv die Erlaubnis, Wände der Strandpromenade in Tel Aviv, Kioske und Fassaden ehemaliger Geschäfte oder Mauern zu bemalen. Die Themen bezog er aus dem Alltagsleben: spielende Kinder, Leute beim Kaffeetrinken und ähnliche Szenen. Kritisch, sozial oder politisch ausgerichtet waren diese Themen nicht, da die Arbeiten entweder von der Stadtverwaltung genehmigt oder von kommerziellen Auftraggebern bestellt worden waren. Gleichwohl markiert Meiri bis heute den Beginn der israelischen Street-Art, vor allem in Bezug auf Tel Aviv. Da die politische Situation in Israel nie zur Ruhe kommt, wäre mit einer ausgeprägten Street-Art des Protests zu rechnen — diese Entwicklung vollzog sich jedoch in gesellschaftlicher Richtung und nicht in politischer.

Die politische Agenda

Der beschriebene Trend wurde durch einen außergewöhnlichen Vorfall unterbrochen: Am 4. November 1995 kam es zu dem Mord an Premierminister Jitzchak Rabin. Der Schock trieb Zehntausende Jugendliche an den Schauplatz des Mordes, den Platz der Könige Israels – heute Rabin-Platz –, wo sie sich versammelten, um dem ermordeten Premier zu gedenken. Ein Teil von ihnen zündete Kerzen an, andere drückten sich auf visuelle kritische Weise in Graffiti-Botschaften aus. Diese spontane Reaktion war nicht das Werk von Künstlerhänden, sondern von Erwachsenen wie Jugendlichen ohne künstlerischen Hintergrund. Sie griffen zu diesem Medium, um ihrer Bedrängnis Ausdruck zu verleihen.

Ein weiterer Vorfall war der Bau des Trennzauns. Die israelische Regierung errichtete diese Mauer ab 2002 zwischen den Territorien der Palästinensischen Autonomiebehörde und Israel. Sie ist mit 700 Kilometer länger und auch höher als die Berliner Mauer. Zum Zweck der politischen Trennung angelegt, bietet sie Graffiti- und Street-Art-Künstlern eine Plattform großen Ausmaßes. Als erster internationaler Künstler bemalte Bansky die Wand und zog damit die Aufmerksamkeit der Kunstwelt auf sein Schaffen und auf den Ort. Er gründete ein Kollektiv von Street-Art-Künstlern, die sich »Santa’s Ghetto« nannten, darunter JR, FAILE, Swoon, BLU und andere. Ihnen schlossen sich Tel Aviver Street-Art-Künstler wie Know Hope und Ame 72 an. Innerhalb weniger Wochen füllte sich die Mauer mit beeindruckenden künstlerischen Werken und die Mitglieder der Gruppe warben etwa eine Million Dollar als Spende an bedürftige Israelis ein. Die meisten Arbeiten an der Mauer integrieren politische Botschaften. Partiell sind sie in ihrer ursprünglichen Form erhalten geblieben, andere hingegen wurden mit den Jahren überstrichen, weil nicht alle Einwohner sich mit der Idee anfreunden konnten, dass an einem hässlichen Ort Schönheit entstand, da das Hässliche das wahre Gesicht dieses Ortes entlarvt.

Der israelisch-palästinensische Konflikt ist in der israelischen Street-Art als Thema nicht üblich. In einem Land, wo der Konflikt immerzu auf der Tagesordnung steht, birgt die Idee, in andere Narrative zu entfliehen, größeren Zauber. Einer der wenigen auf dem Gebiet tätigen Künstler ist Jonathan Kis-Lev. Seit Jahren engagiert er sich für die Förderung der israelisch-palästinensischen Beziehungen. In einer bekannten Arbeit im Zentrum von Florentin schuf er eine Verbindung zwischen zwei Cartoon-Ikonen — Srulik aus der Feder des israelischen Karikaturisten Dosh und Handala aus der des arabischen Karikaturisten Nadschi al-Ali —, die jeweils den Israeli und den Palästinenser symbolisieren. Kis-Lev präsentiert sie von hinten weit oben an einer Hauswand. Sie umarmen sich, als gingen sie einer besseren Zukunft entgegen.

Die gesellschaftliche Agenda

In Tel Aviv sind viele gesellschaftliche Arbeiten der Schablonenkunst (Stencil) anzutreffen: Es ist eine Street-Art-Aktion, die schnell realisierbar ist und derer sich viele Leute bedienen, die eher nicht zu den auf Street-Art spezialisierten Künstlern zählen. Als Beispiel sei der Preisanstieg genannt, der 2011 zu einem großen sozial-ökonomischen Protest führte, bei dem die Schablonenkunst zentrales Ausdrucksmittel wurde. Bei feministischen Themen lange Zeit vor der Me-Too-Revolution und natürlich auch in der Folgezeit flammte immer wieder Protest auf. Im Gegensatz zu früher strotzen heutzutage die Straßen Tel Avivs vor Aktionen der Street-Art-Künstlerinnen. Eine Pionierin ist Foma <3, die sich künstlerisch der feministischen Agenda verschrieb. Sie schuf weibliche Figuren, die sich zu abstrakten bezahnten Vaginen (Vagina dentata) entwickelten. Eine ihrer dominantesten Serien waren Schwarz-Weiß-Poster, die in ganz Tel Aviv angebracht wurden. Sie zeigten eine Frau mit weißer Gesichtsmaske, auf deren Brust in Knallrot chauvinistische Sprüche standen, die auf Bemerkungen von Männern auf der Straße zurückgingen.

Mit gesellschaftlichen Themen setzen sich viele Künstler auseinander, die aus den USA, der früheren Sowjetunion und Großbritannien stammen. Im Teenageralter oder manchmal in ihren Zwanzigern nach Israel eingewandert, waren sie in den Ländern ihrer Herkunft bereits mit Street-Art in Berührung gekommen. Daher brachten sie nicht nur ein Bewusstsein für Street-Art und deren Bedeutung in der breiten Öffentlichkeit mit, sondern auch ein Verständnis für deren gesellschaftlichen Charakter. Mit 18 schrieb der aus den USA eingewanderte Know Hope den Schriftzug seines Namens mit schwarzer Tusche an die Mauern der Stadt. Ihm ging es um das Wortspiel: »No Hope – Know Hope«. Später integrierte er in seine Arbeiten Figuren, die mit der Zeit Ikonen wurden. Die von ihm geschaffene androgyne Figur ist menschlich, jedoch nicht individuell, sie ist in gewisser Weise universal. Ihre Augen sind geschlossen und die schlaksigen Arme verdreht. Sie ist mit Objekten wie einer Sanduhr, einem Vogel oder einem Herz abgebildet. Das Narrativ erzählt vom Umfeld des Menschen und von der Reise, auf die er sich begibt, bis er die Wahrheit erblickt. Die Symbole kommunizieren auf unkomplizierte Art und Weise mit ihrer Umgebung, denn der Street-Art-Künstler ist sich bewusst, dass der Betrachter an dem Werk vorübergeht, ohne sich darin zu vertiefen. Aus dem Grund vereinfacht er komplexe Situationen zu Symbolen, die für jeden Menschen verständlich sind. Die Werke von Klone, der aus der ehemaligen Sowjetunion stammt, nehmen überwiegend Bezug auf die Kunstepochen und die christliche Ikonografie – für Letztere herrscht in Israel wenig Bewusstsein. Seine Arbeiten repräsentierten eine Art surrealistische Wesen, hybride Mensch-Tier-Figuren. Sie symbolisieren die Natur auf den Straßen der Stadt oder den Menschen als Raubtier. Der seinen Arbeiten gelegentlich beigefügte russische Begleittext ist dazu bestimmt, einen imaginären Dialog zwischen dem Künstler und Gebäuden, Säulen und Menschen zu führen. Mit den Jahren ging Klone dazu über, großformatige Werke zu schaffen, um sich mit dem städtischen Raum auf totale Weise auseinanderzusetzen. Zudem nahmen seine Figuren menschlichere Züge an.

Street-Art umfasst auch Street-Lyrik. Hierbei ist das Hebräische hervorstechend, die Schrift zudem deutlich lesbar, damit der Betrachter innehält, um den Text auf sich wirken zu lassen. Die Street-Lyrik stammt entweder von Street-Art-Künstlern, die Gedichte oder populäre Gedichte zitieren oder selbst Gedichte verfassen. Eine der herausragenden Lyrikerinnen, die originär schreibt, ist Nitzan Mintz. Ihre autobiografisch-urbane Lyrik prangt in Schablonenschrift auf Sperrholz-Wänden, manchmal begleitet von Figuren anderer Künstler dieses Genres. Die Lyrik ist Teil eines Gesamtkunstwerks, das wie ein Bild aufgehängt wird und mit der Straße und deren Objekten verschmilzt. In den letzten Jahren arbeitet sie mit dem Street-Art-Künstler Dede zusammen, der in seinen Werken post-traumatische Einflüsse seines Militärdienstes zum Ausdruck bringt. Seine bekannten Werke integrieren Motive von Pflastern, manchmal in Großformat auf Häuserwänden und manchmal als kleines Icon auf einem Verkehrsschild. Ein weiteres zentrales Image von Dede sind aus farbigen Brettern gefertigte Tiere – ein Vogel, eine Maus und andere – als Echo auf den Städtebau. Mit der Zeit wandten sich Dede und Mintz Großformaten mit standortspezifischen Kompositionen zu.

Die meiste Street-Art entsteht in Tel Aviv-Jaffa, doch es lassen sich auch Werke, hauptsächlich spannende Graffiti in Jerusalem finden. In der Hauptstadt ist die Situation komplex, denn sie gehört zu den kompliziertesten Städten der Welt. Darüber hinaus gibt es die kommunale Regelung, dass jedes Gebäude mit Jerusalemer Sandstein verkleidet werden muss. Diese hervorstechende Textur vereitelt große und komplexe Werke. Demgegenüber bietet Haifa, die dritte Stadt im Land, schöpferischem Schaffen eine Heimat. Broken Fingaz, eine Gruppe von vier Künstlern, machte 2001 ihren Anfang. Die Arbeit im hundert Kilometer von Tel Aviv entfernten Haifa ermöglichte es ihnen, sich von der Tel Aviver Kultur abzusondern und eine eigene Nische zu kreieren. Ihre Werke sind farbenfreudig und grafisch, schöpfen aus dem amerikanischen Graffiti-Stil Anfang der 1980er Jahre, wobei Konsumartikel, Horrorfilme und die Populärkultur die Quellen ihrer zentralen Motive darstellen. Schwarze Konturen und flache Farben sind charakteristisch für ihren Stil. Heutzutage zeichnen auch sie großformatige Arbeiten, die komplex und standortspezifisch sind. Die Gruppe entwickelte sich zu einem Künstlerkollektiv, das sich auch anderen Gebieten wie Druck und Animation widmet.

Tel Aviv verändert sein Gesicht rasch. Neue Gebäude werden hochgezogen, glitzernde Viertel entstehen und die Straßen werden breiter und kommerzieller. Mit dem Abriss alter Häuser verschwinden Werke, die jahrelang existiert hatten. Die Street-Art sucht sich, wie viele Bewohner, ein anderes Viertel, wo der Prozess von Neuem seinen Anfang nehmen kann. Heute ist Florentin aufgrund der vielen Wandgemälde, der Schablonenkunst, Zeichnungen und Schriftzüge, die sich an fast jedem Gebäude und jeder Wand befinden, »gesättigt«. Es gibt Brennpunkte in anderen Vierteln wie Kiryat Hamelacha, ein Industriegebiet im Süden von Tel Aviv, und im Zentrum von Jaffa. Dort wird in der Zukunft ebenfalls eine Sättigung eintreten und mit der Entstehung neuer Gebäude werden die Brennpunkte der Street-Art sich verlagern.

Aus dem Hebräischen übersetzt von Ulrike Harnisch.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2022.