Vom »Anwalt ohne Leidenschaft« zum jüdischen Koch mit Leidenschaft: Im Rahmen eines Schüleraustausches Ende der 1980er Jahre entdeckt der gebürtige Kölner Tom Franz seine Faszination für das Judentum. Nach dem Jurastudium wandert er nach Tel Aviv aus und konvertiert zum Judentum. 2013 gewinnt Tom Franz die israelische TV-Kochshow »Masterchef«, in der er traditionelle deutsche mit koscherer Küche und modernen Kochtechniken kombiniert. Spätestens seitdem baut er – nicht nur kulinarisch – die Brücke zwischen Deutschland und Israel weiter aus. Im Gespräch mit Theresa Brüheim gibt er Einblick in die »New Israeli Cuisine«, die koschere Küche, die vegane Esskultur in Tel Aviv und vieles mehr.

Theresa Brüheim: Herr Franz, wenn Sie Israel, Ihre Wahlheimat, in einem Gericht beschreiben sollten, welches wäre das?

Tom Franz: Das ist nicht mehr so einfach zu beantworten. Heute muss man dafür kreativ sein. Israel ist eine große Fusion. Aber ich würde auf einen Teller legen: eine gegrillte Aubergine mit Tahini-Sauce und eingelegten Zitronen sowie etwas Knoblauch – aber daneben läge ein Schnitzel und es gäbe Püree dazu. Und wenn Kinder am Tisch sitzen, würde man noch Ketchup drauf machen.

Der Teller macht die kulinarische Vielfalt Israels deutlich. Die liegt auch darin begründet, dass Israel ein Einwanderungsland ist …

Genau, zudem spielt die Moderne mit rein. In Israel sind heute die meisten Restaurants Pizzerien – und nicht mehr Falafel-Buden. Die Internationalisierung hat Israel eingeholt. Das heißt aber nicht, dass Israel nicht seine eigene Esskultur hat. Diese kulinarische Vielfalt, die hier hingehört, würde man erst mal als israelisch bezeichnen – mit Ausnahme von Schnitzel und Pizza. Wobei ersteres auch eine israelische Note hat, denn es ist Hähnchenschnitzel. In Israel machen wir Schnitzel aus Hähnchenbrust. Das ist ganz wichtig und genial – ich empfehle es Ihnen.

Die israelische Vielfalt macht natürlich auch die Lage im östlichen Mittelmeerraum und somit an der westlichen Grenze zu Asien aus. Wir befinden uns in einem ganz besonderen Gebiet: eingegrenzt von arabischen Staaten. Das hat Einfluss auf unsere Küche. Die Zutaten, die hier angebaut werden, sind schon seit Jahrtausenden da. Die palästinensische Küche ist genauso vertreten wie die ägyptische, jordanische, syrische und nordafrikanische. Hinzu kommt das, was die jüdische Gesellschaft in den letzten 150 Jahren mitgebracht und da­raus gemacht hat. Das jüdische Volk ist nach fast 2.000 Jahren aus der Diaspora, aus der Verstreuung zurückgekehrt. Zuvor hat es überall auf der Welt gelebt. Aus den Gastländern wurden die typischen Küchen mitgebracht. Das heißt, wenn die Menschen in Spanien gelebt haben, brachten sie spanische Gerichte mit; wenn sie im Jemen gelebt haben, jemenitische Gerichte; wenn sie in Russland gelebt haben, russische Gerichte. Das ist alles hier in Israel zu finden. Es wurde insbesondere durch die ersten Generationen mitgebracht, lebt fort und nebeneinander her. Heute sind die großen Einwanderungswellen vorbei. Immer mehr vermischen sich die Ethnien in den Familien. In der nächsten Generation heiratet ein Marokkaner eine Irakerin oder der ägyptische Jude heiratet eine Polin – innerhalb der jüdischen Gesellschaft. Auch das hat Einfluss auf die Entwicklung der Küche. Es vermischt sich.

Und dann kommen die Profis dazu: die Köche, die richtig Kochen lernen. Das ist erst mal frei von dieser jeweiligen Prägung, die von zu Hause kommt. Die lernen erst mal Kochtechniken und dann nehmen sie häufig die Sachen, die sie von zu Hause kennen oder im Ausland entdeckt haben, und entwickeln daraus die sogenannte »New Israeli Cuisine«. Die macht aktuell Furore in der Welt. Im Moment ist israelische Küche sehr, sehr angesagt. Auch weil es hier ein solcher »Melting Pot« ist. Daraus entsteht eine Fusion par excellence. Das ist sehr schnelllebig. Denn Jüdinnen und Juden sind unglaublich umtriebig auf der Welt. Überall gibt es jüdische Gemeinden. Die Menschen reisen sehr gerne und gehen schnell ins Ausland, um zu arbeiten. Von überall bringen sie neue Einflüsse mit. Dadurch ist das echt eine unglaublich spannende Szene rund ums Essen. Aber Corona hat das Tempo runtergefahren.

Eine große Tendenz in Israel ist auch die vegane Esskultur.

Richtig.

Das hat mich überrascht. Wieso ist veganes Essen in Israel so weit verbreitet? Und welchen Einfluss hat das auf die moderne israelische Gesellschaft?

Das Vegane hat auch einen Ursprung in der koscheren Küche, in der es verschiedene Kategorien von Essen gibt. Wir haben fleischiges Essen, wir haben milchiges Essen und dann gibt es noch eine Kategorie, die Parve heißt, die ist weder milchig noch fleischig. Für Parve gibt es ein großes Segment in der Lebensmittelindustrie und in den Supermärkten. Das Einzige, was in Parve drin sein darf, was nicht vegan ist, sind Eier und Honig. Ansonsten ist Parve von der Definition her vegan. Das heißt, es gibt per se so was Ähnliches in der jüdischen Küche. Aber das ist nicht das Hauptmoment, sondern die Leute, insbesondere in Tel Aviv, leben sehr, sehr modern. Vegane Esskultur gibt es nicht in ganz Israel, es ist in erster Linie ein Tel Aviver Trend. Auch in Deutschland findet man die meisten Veganer in den großen Städten und rund um die Unis. Die vegane Szene ist hier sehr etabliert. Es ist in Israel auch einfacher als in Europa, in Deutschland vegan zu leben. Die Israeli Cuisine ist per se unglaublich reichhaltig an Zutaten, die im Endeffekt auch das vegane Essen ausmachen. Wenn ich mir angucke, welche Lebensmittel Veganer verwenden, dann findet sich unglaublich viel davon in einem israelischen Kochbuch. Wenn ich hingegen ein deutsches Kochbuch nehme und da das Fleisch rauslasse, dann wird es sehr schnell langweilig. Deutsche Gerichte sind klassische Dreiteiler: ein Stück Fleisch, ein bisschen Gemüse und dann Kohlenhydrate. Die Gerichte hier sind viel, viel bunter. Wir nutzen viele Hülsenfrüchte und viel Gemüse, welches wir frisch auf den Märkten kaufen. Zwar ist das Land klein, aber wir haben eine Landwirtschaft, die unglaublich viel produziert und die Sachen frisch in die Läden bringt. Das ist ein Vorteil. Es macht sogar Spaß, hier vegan essen zu gehen. Man muss also nicht leiden.

Zum Einfluss des Veganen auf die israelische Gesellschaft: Es dauert natürlich, bis sich so was auf eine Gesellschaft auswirkt. Aber es fängt damit an, dass man hier eine sehr »vegan-friendly« Esskultur hat – zumindest im Bereich der Restaurants, Hotels, Kaffeeketten, die auch über Tel Aviv hinausgehen. Selbst in der Armee gibt es die Möglichkeit für Veganer vegan zu essen. Es wird Veganern im Militär sogar ermöglicht, auf Lederstiefel zu verzichten. Es gibt in der Knesset, also im Parlament, einen »Meatless Day«. Und der Premierminister lässt sich in Angelegenheiten des Tierschutzes und Veganismus beraten. Israel ist bekannt für Start-ups und Hightech. Im Bereich veganes Essen gibt es mehr und mehr Unternehmensgründungen, die sich ansiedeln.

Tel Aviv wurde im Dezember 2021 vom britischen Magazin »Economist« zur teuersten Stadt der Welt gekürt. Wie beeinflusst dieser Umstand die Esskultur?

Es ist alles sehr teuer. Es gibt saisonale und einige regionale Produkte, die günstig sind. Aber wenn ich im hier im normalen Supermarkt einkaufe und das vergleiche mit dem, was ich in Deutschland beim Discounter bezahlen würde, dann zahle ich 150 Prozent davon. Das ist noch nicht mal spezifisch für Tel Aviv.

Sie werden auch als kulinarischer Botschafter zwischen Israel und Deutschland bezeichnet. Wie stehen Sie zu diesem Titel? Und welche Botschaft wollen Sie gegebenenfalls vermitteln?

Den Titel haben mir Journalisten gegeben. Er ist durch das entstanden, was ich mache. Ich bin ja nicht als Koch nach Israel gegangen, sondern ich war Anwalt. Dann habe ich an der Kochshow »MasterChef« teilgenommen und bin so zum Koch und präsent in den Medien geworden. Ich durfte dann erzählen, wie ich hierhingekommen bin, was ich mache, was ich an diesem Land liebe. Das mache ich schon seit fast zehn Jahren.

Israel ist stets in den Nachrichten. Viele wissen auch etwas über die Geschichte des Landes. Aber es war und ist noch viel Arbeit erforderlich: Israel ist nicht nur gefährlich, was viele denken, sondern auch unheimlich lecker und unheimlich spannend. Rückblickend hat sich in den letzten zehn Jahren unglaublich viel in der Wahrnehmung der israelischen Küche getan. Und dadurch wird Israel insgesamt anders gesehen. Es gibt immer mehr Leute, die hierhinkommen, nicht nur, um religiöse Stätten zu sehen, sondern auch, um das israelische Essen kennenzulernen. Das ist nicht allein auf mich zurückzuführen, aber ich habe zumindest auch Teil daran. Man lernt Leute sehr, sehr gut über ihre kulinarische Herkunft kennen – quasi über die Küchenhintertür.

Eines Ihrer Ziele ist es, die Qualität der koscheren Küche auf das Niveau der Haute Cuisine zu heben. Wie wollen Sie das machen?

Die koschere Küche hatte in der Vergangenheit keinen besonders guten Ruf, auch nicht innerhalb der israelischen Gesellschaft. Das hatte auch damit zu tun, dass insbesondere die Köche, die international tätig waren, die »New Israeli Cuisine« unter anderem mit tollen Restaurants etabliert haben, die mit koscher wenig am Hut hatten. Die koschere Küche blieb überwiegend im familiären Bereich. Dadurch entwickelt sie sich nur mit Zeitverzögerung, aber trotzdem kontinuierlich weiter – wobei sie immer koscher bleibt.

Koscheres Essen ist für mich eine Selbstverständlichkeit: Als ich anfing, mich dem Judentum zu nähern, habe ich begonnen, nach den koscheren Regeln zu essen. Innerhalb dessen habe ich mich, ohne damals Koch zu sein, kulinarisch ausgelebt und ausgetobt. Das hat mir unglaublich viel Freude gemacht. Und als ich dann die Gelegenheit hatte, dies vor laufenden Kameras zu tun, war klar: Das ist eine Chance. Es gibt keinen Grund, sich für die koschere Küche zu schämen. Ich hebe das, was ich zu Hause lebe, nur auf ein erheblich höheres Niveau und bringe es auf ein schnelleres Tempo.

Welche Rolle spielt Essen im Judentum generell?

Das jüdische Essen ist eine der Säulen des Judentums. Es gibt die Kaschrut, die Speisegesetze, die durch die Torah, unsere Bibel, vorgegeben ist und das jüdische Essen seit Tausenden Jahren definiert.

Das heißt, egal ob ich in Babylon war, in Israel lebe oder in Italien bin, jeder Jude isst koscher. Man kann die unterschiedlichsten Gerichte koscher zubereiten. Ich kann genauso chinesisch koscher kochen, wie ich polnisch koscher kochen kann. Das Koschere hat das Volk über die Jahrtausende zusammengehalten.

Dadurch, dass die Menschen aus einem Selbstverständnis heraus koscher gegessen haben, haben sie sich nicht in anderen Gesellschaften aufgelöst. Wenn man nicht mit anderen Menschen zusammen isst, kommt man nicht so schnell in Verbindung mitei­nander und heiratet außerhalb der Religionsgesellschaft. Das heißt, es hat einen Schutzeffekt.

In Tel Aviv ist das koschere Essen sicherlich nicht dominierend, aber sonst isst Israel überwiegend koscher. Bei vielen ist es so, dass sie zwar auswärts nicht koscher essen, aber zu Hause doch. Das koexistiert.

Auch bei allen jüdischen Feiertagen geht es ums Essen. Es gibt eine schöne Formulierung: Was ist die Bedeutung der Feiertage? Man hat versucht, uns umzubringen, wir haben überlebt, lass uns was zusammen essen! Jedes Fest hat besondere Gerichte, die dazugehören. Dadurch gibt es eine ganz intime Verwebung der speziellen Gerichte mit den Feiertagen. Die wunderbaren Gerichte des Schabbat, der jede Woche ist, sind der Vorreiter: Viele Familien essen sogar jeden Schabbat die gleichen Gerichte – seit Generationen. Und dann kommt es drauf an, ob es eine marokkanische, irakische, italienische oder polnische Familie ist. Die haben alle ihre speziellen koscheren Gerichte.

Hinzu kommt die Symbolfunktion von vielen Gerichten. Symbole sind wichtig, lehrt das Judentum. Über das Essen werden Geschichten erzählt und Traditionen vermittelt. Das Essen hat im Judentum einen unglaublich hohen

Stellenwert. Essen ist Geschichte, die durch den Magen geht.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2022.