Jerusalem ist die Hauptstadt der Religionen. Im Laufe der Jahre wurde sie zur Metapher zahlreicher Filme und heute scheint es – zumindest in Israel – als sei Jerusalem auch die Hauptstadt der Animationsfilme. In den letzten Jahren hat der Geschäftsführer des Jerusalemer Film Fond (JFF), Yoram Honig, auf beispiellose Art und Weise die Entwicklung des Animationsbereichs vorangetrieben.

So entstanden allein in den letzten zehn Jahren zwei Produktionen, die weltweit und insbesondere in der jüdischen Welt für Aufsehen sorgten: »Wo ist Anne Frank?« von Ari Folman, dem Regisseur des berühmten Animationsfilms »Waltz with Bashir« (2008), wurde bei den Filmfestspielen von Cannes im Jahre 2021 uraufgeführt; eine Ehre, die normalerweise Disney- und Pixar-Filmen vorbehalten ist. Der in Jerusalem geförderte und entwickelte Film wurde von 14 Studios aus der ganzen Welt produziert. Er erzählt aus neuer Perspektive die Geschichte des deutsch-jüdischen Mädchens Anne Frank, das während des Zweiten Weltkriegs in ihrem Versteck in Amsterdam ein Tagebuch schrieb. Dieses wurde im Jahre 1945, zwei Jahre nach ihrem Tod im KZ Bergen-Belsen, als Buch veröffentlicht und weltberühmt. Nach der Veröffentlichung wurde Anne Frank weltweit zu einem Symbol für die Opfer von antisemitischem Rassismus und Faschismus. Folmans Film zeigt, dass die Geschichte von Anne Frank nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart betrifft. Die Hauptfigur des Films ist jedoch nicht Anne Frank, sondern Kitty, die imaginäre Freundin, an die Anne Frank ihr Tagebuch richtete. Im Film wird die »Liebe Kitty« aus dem Tagebuch lebendig und nimmt die Zuschauer mit auf ihre eigene Entdeckungsreise in die Geschichte von Anne Frank und die Bedeutung ihres Tagebuchs. Im Verlauf der Handlung werden nicht nur historische Themen wie der Aufstieg des Nationalsozialismus, das Leben im Versteck und die Geschichte des Holocaust angesprochen, sondern auch aktuelle Themen wie Menschenrechte und Flüchtlinge. Der Film wurde mit zehn Millionen Euro subventioniert und ging in die Liste der beeindruckendsten filmischen Errungenschaften Israels ein.

Ein weiterer Film ist »Saga der Zerstörung« des Regisseurs Gidi Dar. Im Gegensatz zu herkömmlichen Animationen entrollt der Film seine Handlung anhand von 1.500 unbewegten Zeichnungen und Ölbildern. Aus der Sicht sechs legendärer Persönlichkeiten der Römerzeit im antiken Israel wird eine historische Begebenheit erzählt, die auf historischen Quellen beruht wie den talmudischen Legenden über die Zerstörung des Tempels und der »Geschichte des jüdischen Krieges« von Josephus Flavius. Der Film erzählt in epischer Form die Geschichte des verheerenden Aufstands einiger Juden im Römischen Reich – um 66 bis 70 n. Chr. –, der zu einem blutigen Bürgerkrieg ausartete, durch den die ohnehin polarisierte jüdische Gesellschaft gänzlich entzweit wurde, und der sie lawinenartig in Verderben und Zerstörung trieb. Den Höhepunkt bildet die Zerstörung des zweiten jüdischen Tempels in Jerusalem.

Israelische Kinofilme konkurrieren um die begrenzten Budgets von fünf in Israel aktiven Filmfonds. Die Konkurrenz ist groß und israelische Filmemacher, die heutzutage einen Film produzieren wollen, haben keine andere Wahl, als ihr Glück zu versuchen, denn das Verhältnis hiesiger Filmemacher zur begrenzten Anzahl der Budgets der israelischen Filmindustrie ist nicht tragbar. Diese Situation lässt Filmemachern wenig Entscheidungsmöglichkeiten: entweder auf bessere Zeiten warten, ganz aufgeben, oder ggf. die Produktion mit der Hälfte des üblichen Budgets für einen israelischen Films zu beginnen. Doch auch ein »ganzes Budget« für einen israelischen Film – etwa eine Million Euro – lässt keine aufwendigen Produktionen zu. Diese finanziellen Beschränkungen spiegeln sich in der Qualität der Filme.

Und dennoch überraschen israelische Filmemacher Jahr für Jahr mit zahlreichen Filmen, die auf Festivals in der ganzen Welt Anerkennung erhalten und wiederholt für Oscar-Auszeichnungen nominiert werden. Anscheinend zwingen die Produktionsherausforderungen die Filmemacher zu kreativen Lösungen.

Der weltweite Erfolg israelischer Filme kommt angesichts ihrer Produktionsbedingungen einem Wunder gleich. Es ist ein Phänomen, wenn ein kleines Land wie Israel – mit seiner komplexen Verschränkung von Geld, Sprache, Kultur, Politik – erfolgreich Filme produziert, die auf fast jedem Festival Interesse erwecken. Die Anzahl auf den Filmfestivals vorgestellten Filme übersteigt die aus ähnlich großen Ländern.

Der weltweite Durchbruch israelischen Kinos, Fernsehens, und nun auch israelischer Animationsfilme, hat das gesamte Rampenlicht auf Israel gelenkt. Auch ausländische Investoren beginnen, Interesse zu bekunden. Der führende israelische Investmentfonds »Meitav-Dash Ltd.« hat im Sommer 2021 einen Fond mit einem Budget in zehnfacher Millionenhöhe gegründet. Wieviel israelische Filmemacher sich für ihn interessierten? Nur vereinzelte. Und so hat »New Legend« aus dem Hause Meitav-Dash Ltd., zusammen mit Netflix, HBO/Hulu und A&E, ein internationales Förderungsprojekt ins Leben gerufen. Das auf 24 Monate budgetierte Förderungspaket beinhaltet Reisekosten und Marketing im Ausland, die Unterstützung durch Mentoren aus Israel und dem Ausland; dazu werden im März die Vizepräsidenten der genannten Produktionsfirmen nach Israel kommen, um talentierte Filmemacher kennenzulernen, die an einem Filmprojekt mit anständigem Budget, fairem Gehalt und mit Aussicht auf Rentabilität interessiert sind. In Jerusalem hat man verstanden, dass sich im Bereich der Animation der Ruf hochwertiger und gewinnbringender israelischer Originalarbeit auszahlt.

Je mehr Animationsfilme über Film- und Fernsehprojekte in Jerusalem zu einer legitimen Kunstform befördert werden, umso mehr wächst das Interesse und die Neugier nimmt zu. »Vom Kino bis zum Computerspiel haben wir das lokale kreative Ökosystem in alle Richtungen erweitert. Alle Altersklassen sind beteiligt, schon ab der 5. Klasse. In manchen Schulabschlussklassen kann Animation als Hauptfach gewählt werden. Außerdem ist es nun erstmals in Israel möglich, einen Schulabschluss in Animation zu machen. Studierende erschaffen sich so ihre eigenen Studios selbst, und alles, was zur audiovisuellen Kunst an den Schnittstellen zwischen Informatik und Start-up gehört. Das ist in unseren Augen zeitgemäße Filmkunst«, so Honig. »In den letzten Jahren wurde auch das jüdisch-israelische Archiv für Animation verbessert«, betont der Geschäftsführer des JFF abschließend und meint, dass 2022 das Jahr sein wird, »indem wir sehen werden, wie sich die israelische Animationskunst auszahlt und ob es der Animation in Jerusalem auf Weltniveau gelungen ist, einen eigenen Platz zu besetzen.«

Aus dem Hebräischen übersetzt von Jan Kühne.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2022.