Der Bühnentanz hat sich in Israel zu einer der bekanntesten und originellsten künstlerischen Ausdrucksformen entwickelt. Seit seinen Anfängen in den 1920er Jahren, während der Jischuv-Zeit vor der Gründung des Staates Israel, als es den Bühnentanz im eigentlichen Sinn noch nicht gab, hatte es der Tanz nicht leicht. Da die Menschen beseelt waren von dem Wunsch, eine neue Kultur aufzubauen, ergaben sich in fast allen Lebensbereichen wie auch im Tanz bestimmte Fragen. Eine davon lautete: »Was tanzen wir?« Der hebräische Tanz oder der Tanz in Eretz Israel musste quasi aus dem Nichts erschaffen werden.

Heute wie früher dominiert in Israel der moderne Tanz. Während des Zweiten Weltkriegs war der Bühnentanz in hohem Maße vom mitteleuropäischen Ausdruckstanz beeinflusst, den jüdische Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich nach Israel brachten. Nach der Gründung des Staates Israel 1948 orientierte sich der Bühnentanz zusehends am amerikanischen Tanz. In den späten 1970er Jahren, als der »Alternative Dance« in Mode kam, bemühten sich israelische Künstler darum, zu einer eigenen Ausdrucksweise zu finden. Heutzutage sind die meisten Tanzkünstler in Israel geboren und aufgewachsen und mit den komplexen politischen, gesellschaftlichen, religiösen und ethnischen Verhältnissen vor Ort, die den Tanzschaffenden ein weites Feld bieten, bestens vertraut.

In Israel gibt es drei große zeitgenössische Tanzkompanien und einen Verband unabhängiger Choreographen mit über 80 Mitgliedern. Das Israel Ballet ist die einzige große Kompanie dieser Art. Das führende Ensemble ist die Batsheva Dance Company. Ihr künstlerischer Leiter und Choreograph Ohad Naharin ist Schöpfer der Bewegungssprache »Gaga«, die Bilder und physische Empfindungen als Quelle und Raum für Bewegung nutzt. Ein weiteres großes Tanzensemble ist die Kibbutz Contemporary Dance Company, die von Yehudit Arnon, einer Auschwitz-Überlebenden, ins Leben gerufen wurde. »Ich stellte mir vor,« so Arnon, »ein Ensemble für abstrakten Tanz zu kreieren, das für Menschlichkeit und Inhalte steht. ›Was‹ wir produzieren, ist sicherlich wichtig, aber ›wie‹ wir es machen, ist noch viel wichtiger.« Der Choreograf Rami Be’er, dessen Eltern den Holocaust überlebt haben, übernahm die künstlerische Leitung der Kompanie. Seine Produktionen handeln von seiner Kindheit und Erziehung im Kibbuz, von der Erinnerung an den Holocaust sowie von politischen Themen wie seinem persönlichen Konflikt in der Rolle als Bürger und Soldat, der als Reservist in den besetzten Gebieten diente.

Die drittgrößte zeitgenössische Tanzkompanie ist Vertigo: Das Ensemble wurde von der Choreografin Noa Wertheim und ihrem Ehemann Adi Sha‹al gegründet und ist sozial und gemeinschaftlich ausgerichtet. In dem in den Bergen oberhalb von Jerusalem liegenden Kibbuz Netiv HaLamed-Heh setzen sie ihre Wertvorstellungen in die Praxis um und bauten ein ökologisches Tanzdorf, das »Vertico Eco-Art Village« auf. Neben Vertigo schuf das Paar eine Kompanie für behinderte Menschen mit dem Namen »Koach HaIzun«, in der zwischen Teilnehmenden mit und ohne Behinderung keine Unterschiede gemacht werden.

Im Gegensatz zu früheren Zeiten, als jüdische Einwanderer die Kultur der Länder, die sie hinter sich gelassen hatten, ablehnten, um Israelis zu werden, beschäftigen sich die Choreografen im heutigen Israel oft mit den Wurzeln ihrer Familien. Dies gilt insbesondere für die, deren Familien aus arabischen und islamischen Ländern stammen: Orly Portal, deren Eltern aus Marokko nach Israel kamen, ließ sich bei der Gründung ihrer Kompanie von der vom Bauchtanz abgeleiteten Bewegungssprache inspirieren. Barak Marshall beschäftigt sich aufgrund seines persönlichen Hintergrundes – er ist Amerikaner, Israeli und Jemenit – mit Erinnerungen, Musik und Texten zum Themenkomplex Ethnizität. Seine Tanzpartituren sind eine Mischung aus der orientalisch-jemenitischen Tradition, Rockmusik und Texten, chassidischen Melodien und rumänischer Klezmer-Volksmusik; die Lieder werden in Jiddisch oder biblischem Hebräisch gesungen. Dege Feder war sieben Jahre alt, als sie im Rahmen der Operation Moses, der geheimen Evakuierung äthiopischer Juden, die sudanesische Wüste durchquerte, um an einen Ort zu gelangen, von dem aus israelische Flugzeuge äthiopische Juden nach Israel ausflogen. Ausgehend von ihrer eigenen Körpersprache und äthiopischen Motiven schuf sie eine absolut einzigartige Körpersprache.

Etwa 24 Prozent der Bevölkerung Israels, d. h. 1,8 Millionen Israelis, sind keine Juden, sondern Muslime, Christen, arabische Beduinen, Drusen oder Kaukasier. Rabeah Murkus rief die »Bridges Dance Group« ins Leben, die durch das Medium Tanz Begegnungen zwischen jungen Juden und Arabern ermöglicht. Sahar Damoni befasst sich bei ihrer ganzen Arbeit mit den Herausforderungen, denen sie als Frau in einer arabisch-palästinensischen Gesellschaft begegnet, während sich Shaden Abu Elasals Werk in erster Linie mit den Folgen von Krieg und Desaster und insbesondere mit dem erlebten and generationenübergreifenden Trauma der Nakba, arabisches Wort für »Katastrophe«, beschäftigt. Der Choreograf und Tänzer Adi Boutrous erklärte, dass er in seinen früheren Werken versucht hätte, sein Arabisch-Sein zu thematisieren. Er habe jedoch nun ein Stadium erreicht, in dem er zur Ruhe kommen und seinen Körper sprechen lassen wolle. »Hier besteht zweifellos eine Verbindung, auch wenn wir im Studio nie über Politik reden.«

Die Tendenz, Politik im Tanz widerzuspiegeln oder mit ihm eine Antwort auf Politik zu geben, hat sich in den darauffolgenden Dekaden sehr verstärkt. Renana Raz widmet sich einer sowohl sehnsuchtsvollen als auch kritischen Untersuchung der Mythen, die das Land prägen. Yasmeen Godder beschäftigt sich mit der weitverbreiteten Gewalt in den besetzten Gebieten, und Hillel Kogan führt zusammen mit Adi Boutrous einen satirischen Tanz zum Thema »Koexistenz« in der israelischen Gesellschaft auf, in dem sie sich über alles und jeden lustig machen. In dem Werk »2-0-1-9«, das Ohad Naharin für die Batsheva Dance Company schuf, machen sich die Tänzer auf den Schößen des Publikums breit, während wir den aufwühlenden Song »You, me and the next war …« aus dem satirischen Stück hören, das Hanoch Levin 1968, d. h. ein Jahr nach dem siegreichen Sechstagekrieg, schrieb. In dem Stück beklagt Levin: »Vor elf Minuten seid ihr, eine ganze Brigade, mit Waffen und Proviant hier losgezogen, kamt aber nicht mehr zurück.« Damals sorgte dieser Satz sogar bei einem linkslastigen Publikum für Missmut. Heute, da bei diesem Thema in vielen Teilen der israelischen Gesellschaft weitgehend Konsens herrscht, ist eine solche Aussage kein Problem mehr.

Während sich die Spaltung zwischen säkularen und ultraorthodoxen Juden vertieft, wird in frommen zionistischen Kreisen der Tanz zunehmend populärer. Ronen Izhaki schuf die Bewegung Kol Atzmotai Tomarna und das gleichnamige Tanzzentrum für fromme Männer in Jerusalem, in dem auch das Ka’et-Ensemble seinen Sitz hat. Sein Werk widmet sich der komplexen Beziehung zwischen der physisch zum Ausdruck gebrachten Sprache des jüdischen Gebets und einer säkulären Ästhetik. Am Orot-Israel-College können Frauen Theologie studieren, aber es beherbergt auch eine Tanzkompanie, die sich darum bemüht, spirituellen Entwicklungen mithilfe von Tanz Ausdruck zu verleihen.

Während der Welle der Selbstmordattentate war in Israel das Bedürfnis nach Eskapismus besonders groß. Dem Choreografen Inbal Pinto gelingt es, ausgehend von der Wirklichkeit ein imaginäres Universum zu schaffen, das durch und durch menschlich ist. Die Bewegungssprache der Tänzerin und Choreografin Sharon Eyal entstammt der Gaga-Tanzsprache von Ohad Naharin, die sie weiterentwickelt und auf eine Art einsetzt, die ihre sinnliche Fantasie widerspiegelt, indem sie sich der Rituale der L-E-V Dance Company bedient.

Jedes Jahr im Dezember besuchen Menschen aus unterschiedlichen Ländern das International Dance Exposure Festival, das im Suzanne Dellal Zentrum in Tel Aviv stattfindet, um sich dort eine Reihe israelischer Tanzvorführungen anzusehen. Tanzkunstforscherin Judith Brin Ingber sagt dazu: »Sie sehen dort Tänze mit enorm viel Imagination; einige davon mit einer dystopischen Vorstellung von der Welt; andere wiederum spiegeln die in Israel beheimateten unterschiedlichen Ethnien wider oder überraschen mit dem Thema des Alterns oder der Sinnlichkeit. Die meisten werden von unglaublich talentierten Tänzern dargeboten, die alle den Gästen – gleich aus welchen Ländern diese kommen – einen kleinen Einblick in das Leben in Israel geben möchten.«

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2022.