Die allermeisten der 24.000 katholischen Kirchen in Deutschland sind tagsüber geöffnet. Auch für Menschen, die keiner Kirche angehören. Der Großteil der Besuchenden kommt außerhalb der Gottesdienste zum Schauen, Meditieren, Nachdenken, Beten oder einfach zum Ausruhen. Die Nachfrage nach Kirchenbesichtigungen – ob per Gruppenführung oder per App – ist allen Unkenrufen zum Trotz nach der Pandemie sogar höher als zuvor. Exemplarische Besucherzahlen aus 2023 beeindrucken: Kölner Dom 6 Millionen jährlich, Freiburger Münster und Trierer Dom je 1,3 Millionen, Bamberger Dom 1,2 Millionen, Dom zu Speyer 0,9 Millionen oder Abteikirche Maria Laach 0,7 Millionen.
Die in vielen Kirchen ausliegenden Gäste-, Dank- und Bittbücher spiegeln wider, was die Menschen beim Besuch dieser KULTurorte empfinden. Beispielsweise haben sich im Gästebuch der »Chagall-Kirche« St. Stephan in Mainz Menschen aus Südkorea, Eritrea, Kalifornien, Belarus, Texas, Mexiko, Teneriffa, Kanada, Slowenien, Ukraine, Italien, Niederlande, Japan und USA verewigt: »Brillant, beautiful, unforgettable«, »Die Kirche ist wunderschön; ein Stück Ewigkeit im Wandel der Zeit«, »Kapellen und Kirchen, die offen sind, tun gut. Danke für diesen Raum«, »what a beautiful church. A privilege to visit«, »magnifique … magique … merci« und »Lieber Gott, mach, dass es dich gibt«.
Identitätsanker
Kirchen wie St. Stephan in Mainz, in denen neben den Gottesdiensten regelmäßig Ausstellungen, Performances, Konzerte und Lesungen stattfinden, nennt man heute gerne »Kulturkirchen«. Die Bezeichnung ist gut gemeint, aber sie ist ein Pleonasmus wie »Sanddüne« oder »Baumallee«. Verkörpert doch das Christentum von Anfang an untrennbar beides: Kult und Kultur. Die Kirchen in Stadt und Land gehören zu den kulturprägendsten öffentlichen Orten schlechthin. Alle ins Mittelalter zurückreichenden Städte Europas haben sich um Domkirchen oder Klöster herum gebildet. Das lässt sich an den konzentrischen historischen Stadtbildern ablesen, deren Mittelpunkte bis heute die Kirchen mit ihren weithin sichtbaren Kirchtürmen sind. Unbestreitbar sind sie Identitätsanker weit über die Glaubensgemeinschaft hinaus.
Auch die Klostergründungen haben sich im Lauf der Geschichte fast immer als Ansiedlungsanreiz für weltliche Infrastrukturen erwiesen, was zu fruchtbaren Wechselwirkungen und regionalen kulturellen Clustern führte. Die vielen global tätigen katholischen Orden und Kongregationen überbrücken mit ihren Niederlassungen mühelos die soziogeografische Kluft zwischen »peripher« und »urban«. Ihre Klöster sind seit jeher Knotenpunkte des internationalen Kulturdialogs.
Authentisch »in Präsenz«
Je digitaler und virtueller heute kulturelle Angebote sind, desto mehr sehnen sich die Menschen nach dem Authentischen, Haptischen »in Präsenz«. Eine Kirche verkörpert das. Häufig ist an die Kirche ein Gebäude(-ensemble) angegliedert, das face-to-face Gemeinschaftsbildung auch außerhalb des Gottesdienstes ermöglicht: Tagungszentren in geschichtsträchtigen Klöstern voll kontemplativer Ruhe, Landvolkshochschulen inmitten kulturgesättigter sakral geprägter Landschaften, kirchliche Akademien genau im Zentrum pulsierender Metropolen sowie Familienbildungsstätten mit kinderfreundlicher Ausstattung und Umgebung – und ganz selbstverständlich ist dort stets eine Kapelle oder eine Kirche vorhanden. Genauso selbstverständlich greifen dort folglich Kult und Kultur ineinander.
Die Kombination von Sakral-Denkmal und Ortsbild, Pilgerweg und Natur, Kloster und Garten übt auf sehr viele, auch nichtreligiöse, Menschen eine starke Faszination aus. In diesem Kontext ziehen die katholischen Wallfahrtskirchen Millionen von Gläubigen, Touristen und Bildungsreisenden an. Sie prägen das kulturelle und kultische Leben ganzer Landstriche. Die bekanntesten Beispiele sind Altötting, Wies/Steingaden, Kevelaer, Birnau, Kreuzberg/Rhön, Vierzehnheiligen. Allein diese sechs KULTurorte werden von 5 Millionen Menschen jährlich besucht.
Menschenhaus und Gotteshaus
Gerade in peripheren Regionen gehören die Kirchen heute zu den Orten, an denen überhaupt noch gehobenere Kulturveranstaltungen stattfinden, die zudem meist kostenlos sind. Die Kirchen sind hier kulturelle Leuchttürme: zunächst infrastrukturell, insofern sie als architektonisch großzügige, ästhetisch herausragende Versammlungshäuser dienen. Dann aber auch inhaltlich, weil sich rund um den Kirchturm wichtige Akteure der Kultur- und Brauchtumspflege des lokalen Sozialraums vernetzen. Zu den noch immer zahlreichen Klosterkirchen auf dem Land gehören kirchlich getragene Schulen, Internate, Kongress- und Bildungszentren, Bibliotheken, Buchhandlungen, Seminare, Ausstellungs- und Konzertreihen – und dies besonders in jenen Regionen, wo die öffentliche Bildungs- und Kulturinfrastruktur auf dem Rückzug ist.
Wollen Künstlerinnen und Kulturveranstalter eine katholische Kirche als Location nutzen, dann taucht häufig die Frage auf, »was in der Kirche erlaubt ist« und »was nicht erlaubt ist«. Die katholische Kirche ist ein sogenanntes Gotteshaus. Nach der Baufertigstellung wird jede katholische Kirche vom Ortsbischof geweiht. Durch die Weihe – die immer dann erfolgt, wenn sich in der Kirche ein Altar für den regelmäßigen Vollzug der Heiligen Messe befindet – wird das Gebäude aus dem Bereich des »profanum«, d. h. des vor der Schwelle des Heiligen Liegenden, in die Welt des Heiligen, des »sacrum«, hineingenommen: Das Gebäude wird zum Sakralgebäude. In einem katholischen Sakralgebäude verhält man sich selbstverständlich genauso geziemend wie etwa in einer Moschee oder einer Synagoge.
Übungsorte für Religionssensibilität
Zu den sozialen Schlüsselkompetenzen gehören heute Geschlechter-, Öko- und interkulturelle Sensibilität; diese Trias gehört dringend erweitert um Religionssensibilität. Religionssensibilität als Skill für jeden – auch für Areligiöse und Religionskritiker – bedeutet: »Religionen kennen und verstehen«. Die religionssensible Grundhaltung beim Besuch eines jeden Sakralgebäudes besteht aus Achtsamkeit, Respekt und Takt. Dafür gibt es ein treffendes Wort: Pietät.
Die Mehrheit der Weltbevölkerung lebt Spiritualität; Europas Spätaufklärung ist nur eine winzige Insel im Meer des Menschlichen. Wer jemals die Kölner Domorgeln unter den Wunderhänden von Winfried Bönig vernommen und die Resonanz der singenden Gemeinde im Kirchengebäude in sich gespürt hat, der ist vor dem Wutbürgertum zwar nicht per se gefeit, aber geht doch innerlich gestärkt in jene tätige Auseinandersetzung um das Gute hinein, aus der – recht betrachtet – Demokratie erst erwächst.
Es fällt auf, dass die katholischen Kirchen in Deutschland zumeist schön erhalten sind, gepflegt und einladend. Das verdankt sich einer hervorragenden Infrastruktur in den Bistümern mit zahlreichen fachkompetenten Mitarbeitenden: kunsthistorische Inventarisatorinnen, Restauratoren, Glockenbeauftragte, Denkmalorgel-Expertinnen, Architekten, Kustodinnen, Archivare, Kunstkommissionsmitglieder und Depot-Verwalterinnen. Und es verdankt sich der Kirchensteuer sowie zweckgebundenen Spenden. Diese Mittel ermöglichen es der katholischen Kirche bislang noch, jährlich mehr als 400 Millionen Euro in die Pflege ihrer historischen Denkmale zu investieren. Außerdem entstanden in den letzten 20 Jahren bundesweit mehr als 300 ehrenamtliche Initiativen für die Denkmalpflege katholischer Gotteshäuser, die Erstaunliches leisten. Jedes Jahr kommen neue hinzu.
Kulturelle Nachnutzung profanierter Kirchen
Wie wichtig die sakralen Baudenkmale für Kultur und Identität der Gesamtgesellschaft – auch über die Kirchenmitglieder hinaus – sind, darauf hat bereits 1989 die Parlamentarische Versammlung des Europarats hingewiesen: »Wenn ein religiöses Gebäude als solches nicht mehr lebensfähig ist, sollten Anstrengungen unternommen werden, um eine zukünftige Nutzung, sei sie religiös oder kulturell, zu gewährleisten, die möglichst mit der ursprünglichen Bestimmung vereinbar ist.« In vielen Großstädten ist seit den 1980er Jahren nahezu flächendeckend für je 1.500 Kirchenmitglieder jeweils eine eigene katholische Kirche vorhanden; man findet dort in bestimmten Quartieren bis zu fünf katholische Kirchen im Abstand von maximal 500 Metern nebeneinander. Diese – ebenso wie die tausenden Dorfkirchen – alle gleichermaßen im Bestand zu erhalten und mit kirchlichem Leben zu füllen, ist heute weder personell noch finanziell leistbar. Technisch besonders aufwendig ist der Bauerhalt der groß dimensionierten Nachkriegskirchen der 1950er bis 1980er Jahre, die heute vielfach bereits unter Denkmalschutz stehen.
Liturgisch nicht mehr genutzte Kirchen verbleiben – nach erfolgter Profanierung – oft in kirchlicher Trägerschaft und werden dann z. B. für Sozialen Wohnungsbau, Caritative Betreuungseinrichtungen, Dienststellen der Diözesanverwaltung, Dependancen des Diözesanarchivs und der Diözesanbibliothek oder als Urnenbegräbnisstätten umgenutzt. Mitunter werden sie auch anderen christlichen Kirchen zur Nutzung überlassen. Eine weitere Möglichkeit ist der Verkauf profanierter Kirchen an säkulare Träger zur Nutzung etwa als Bibliotheken, Konzertsäle, Museen oder Galerien. Generell werden solche Nutzungskonzepte bevorzugt, die dem sozialen wie kulturellen Wirken der katholischen Kirche entsprechen und die das betreffende Gebäude weiterhin als Herzstück des Stadtquartiers oder Dorfs präsent halten.
Aufbruch statt Abbruch
Wenn die mittlere Traufhöhe der übrigen Orts-Silhouette in Deutschland bei durchschnittlich vier Geschossen liegt, dann ist bereits die schiere Höhe eines weit darüber aufragenden Kirchturms aufsehenerregend – die Kirche bleibt weiterhin Landmarke und Identitätsanker. Wenn sie profaniert wurde, sieht man ihr das optisch nicht an. Dasselbe trifft auf ihre typischen Architekturmerkmale wie die bunt verglasten Fenster, die häufig figürliche Fassadenzier (Kreuz, Kruzifix, Madonnen- und Heiligenfiguren etc.) und die meist feierliche Inszenierung des Hauptportals zu: Die Kirche bleibt in den Augen aller eine Kirche auch nach der Profanierung. Als KULTurort bleibt sie assoziativ bestehen, auch wenn der Kult in ihr ruht. Weil das so ist, muss man auch mit einer profanierten Kirche religionssensibel umgehen.
Trotz hunderter Auflassungen und Umnutzungen von Kirchen sind seit 1995 in Deutschland 80 katholische Gotteshäuser sowie 700 sonstige öffentliche Gebäude der katholischen Kirche neu erbaut worden, etliche davon sind sogar international preisgekrönte Architekturen und wurden auch als ökosensible Bauten ausgezeichnet. Die katholische Kirche befindet sich also nicht in Abwicklung, sondern in Entwicklung. Sie steht mit ihren KULTurorten weiterhin für die Gesamtgesellschaft zur Verfügung – für eine Gesamtgesellschaft, die Religionssensibilität übt und lebt.