Eine der vielen unausrottbaren Legenden der bundesdeutschen Kulturpolitik und ihrer Kritiker ist, dass die Gründung des Berliner Humboldtforums erst beschlossen wurde, als der Nachbau der barocken Schlossfassaden bereits feststand. Tatsächlich ist es genau andersherum: Erst die 2001 veröffentlichte Idee des damaligen Generaldirektors der Staatlichen Museen zu Berlin, Peter-Klaus Schuster, und des Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Klaus-Dieter Lehmann, hier die Berliner Sammlungen außereuropäischer Kunst und Kulturen unterzubringen, brachte die nötige politische Energie auch für den seit 1990 debattierten Fassadennachbau. Dass damit die koloniale, letztlich rassistisch motivierte Aufteilung der Berliner Museen zwischen Europa und Nicht-Europa weitergeführt wurde, war damals im deutschen, noch prä-postkolonialen Debattenraum kein Thema, auch wenn genau dies heute eine der schwersten Lasten des Humboldtforums ist.
Aber warum ist diese Legende so immens stabil? Sicher auch, weil sie denen dient, die die Legitimität des Projekts an sich in Frage stellen. Erst die Fassade, dann der Nutzen, das klingt nach Verschwörung von unbelehrbar reaktionären Preußen-Fans. Gestützt aber wird diese Legende durch die zweifellos erhebliche ästhetische Diskrepanz zwischen den monumentalen Barock-Fassaden, der spätklassizistisch mitsamt fataler antijüdischer Inschrift nachgebauten Schlosskuppel und dem eigentlichen Zweck des Gebäudes als Kultur-, Museums- und Veranstaltungszentrum. Dass all dies ein Neubau ist, kein Schloss, das wird nur sichtbar an der Spreeseite. Aber auch deren rigide Klobigkeit könnte vor jedem Nutzen stehen, kündigt nicht an, dass dieses Haus eines der (nichteuropäischen) Weltkulturen ist.
Doch wie sähe die Architektur eines heutigen Kulturbaus überhaupt aus? Wie das expressive Guggenheim-Museum in Bilbao, das technizistische Centre Pompidou, das coole Pekinger Opernhaus, die pathetische Elbphilharmonie, der elegante, vom Abbruch bedrohte Bau des Frankfurter Theaters, die immer wieder faszinierende organische Leselandschaft der Staatsbibliothek am Kulturforum in Berlin?
So generell gestellt, kann die Frage erst einmal sehr einfach beantwortet werden: Mit großer Wahrscheinlichkeit sähe ein heutiger Kulturbau genauso wie das Humboldtforum gerade nicht wie ein Gebäude aus, das für Kulturzwecke errichtet wurde.
Seit der Reformation, der Entmachtung des Adels und der vielen Säkularisationswellen infolge der Französischen Revolution sowie der Sowjetisierung Mittel- und Osteuropas seit 1945 wurden in Europa wohl Zehntausende von Kirchen, Klöstern und Schlössern neuen Zwecken zugeführt. Oft waren diese sozialer Art, wurden zu Armen- und Waisenhäusern oder Hospitälern, sogar Gefängnissen. Viele dieser Gebäude dienen auch weiter als Bildungs- und Forschungsinstitutionen. Unzählbar sind die Umnutzungen von Gebäuden, die noch vorangetrieben wurden durch die Deindustrialisierung seit den 1960er Jahren. Sie machte Tausende von Fabrikbauten zugänglich für Bildungs- und Kulturzwecke. Davor aber wurden selbst Opern- und Theaterhäuser, jedenfalls in ihren Frühzeiten, oft in eigentlich anders gedachten Sälen eingerichtet, siehe Schloss Friedenstein in Gotha.
Die englischen Theaterbauten der Shakespeare-Zeit, das monumentale Teatro Olimpico, das Andrea Palladio und Vincenzo Scamozzi seit 1580 in Vicenza planten, die Opernhäuser im Park von Schloss Drottningholm oder die heutige Staatsoper am Bebelplatz in Berlin aber sind, das wird oft übersehen, bis weit ins 19. Jahrhundert als extra für diesen Zweck errichtete Bauten die absolute Ausnahme geblieben.
Eben dieses 19. Jahrhundert definierte unter dem Eindruck der zunehmenden Spezialisierung in Künsten und Wissenschaften überhaupt erst, was Kulturbauten eigentlich sind, wem sie dienen sollen: kunst-, kultur-, natur- und technikhistorischen Museen, öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken, Archiven, Sammlungen und Ausstellungen, Theatern, Opern, Konzerten, dem in Vorstellungen formalisierten Tanz. Ein Blick ins legendäre »Handbuch der Architektur« zeigt diese Revolution der Architekturmethodik. Es ist eine umfassende Enzyklopädie des Bauens, der Architekturstile, der Methoden des Entwerfens und der Konstruktion, erschien zwischen 1880 bis 1943 in 143 Bänden, geschrieben von den besten Planungs-Fachmännern der Zeit. Im »IV. Theil: Entwerfen, Anlage und Einrichtung der Gebäude« des Handbuchs ist der 1883 erstmals erschienene »Sechste Halbband« den »Gebäuden für Erziehung, Wissenschaft und Kunst« gewidmet: Volks- (also Grund-) und Oberschulen, Gymnasien, Universitäten, Technischen Hochschulen, Frauenbildungsinstituten, Bibliotheken, Ausstellungshallen, Museen, Zoologischen und Botanischen Gärten. Kurz: allen Baulichkeiten, in denen man nach Auffassung des deutschen Bildungsbürgertums im 19. Jahrhundert »etwas lernen« konnte und sollte.
Dieses Handbuch zeigte im technischen Detail, wie solche Häuser funktionieren sollen, welche Grundrisse sinnvoll sind. Dank des Handbuchs fand schnell eine gewisse Standardisierung auch im Bereich von Museen, Opern, wissenschaftlichen Bibliotheken statt – weswegen diese Funktionsbauten heute oft so extrem schwer umzunutzen sind. Auch schlug das Handbuch straffe Fassadentypologien vor. Ein Haus sollte auch nach außen signalisieren, welchem Zweck es dient, und sei es nur durch das Dekor mit Schriftbändern, Skulpturen oder Reliefs. Es war damit die Grundlage einer methodischen Bauspezialisierung, wie es sie bis dahin zuletzt in der Antike gegeben hatte, in Rom, Alexandria, Athen, Antiochia, Pergamon, Marseille, Trier oder Konstantinopel.
Und so wie diese Bauten auch der Selbstdarstellung der griechischen Stadtstaaten, der hellenistischen Monarchien oder römischen Kaiser dienten, vermittelten auch die oft riesigen Neubauten für Museen, Musik und Theater oder Bibliotheken im 19. Jahrhundert straffe soziale Wertehierarchien und damit politische Machtverteilungen. Es fehlen in dem deutschen Buch charakteristischerweise Tanzpaläste, Varietés, Lesestuben, Kirchenschulen. Auch öffentliche Bibliotheken oder »Volksbüchereien« werden nur ganz am Rand behandelt. Dabei hatte Großbritannien deren Förderung mit dem Library Act von 1840 zur staatlichen Aufgabe werden lassen. Seit den 1880er Jahren gab der amerikanische Industrie-Magnat Andrew Carnegie viele Millionen Dollar für den Bau von mehr als 2.000 Public Libraries in den USA und bis nach Australien aus. Der Bau teils überwältigend monumentaler Stadtbibliotheken war in den USA das Zeichen erfolgreicher Kommunen schlechthin, wurde in den 1920er Jahren zum Standard auch in skandinavischen Städten.
In Deutschland aber verhinderte der hoch entwickelte Lessing-Schiller-Goethe-Idealismus des Bürgertums – dass Kunst und »höhere« Bildung nur um ihrer selbst willen da sein sollten, als Teil eines sittlichen, moralischen Projekts der Selbsterhebung über den schnöden Alltag – diese Statussteigerung bis heute. Ausnahmen wie die von den Amerikanern und Ernst Reuter gegen den erbitterten Widerstand des West-Berliner Bürgertums 1954 durchgesetzte Amerika-Gedenkbibliothek, die Stuttgarter Stadtbibliothek von 2011, die phänomenale neue Bibliothek in Augsburg oder jetzt die in Jena bestätigen eher die Regel, dass öffentliche Bibliotheken immer noch wie im Handbuch von 1883 eher als Vergnügungs- und Sozialstationen gelten. In der Coronazeit wurden sie deswegen oft direkt neben den zu schließenden Bordellen genannt, während Universitätsbibliotheken weiter zugänglich bleiben mussten. Nur Sachsen und Thüringen haben Bibliotheksgesetze, die diese Bildungsinstrumente zur Pflichtaufgabe der Kommunen erklären. In den aktuellen Debatten um die Zukunft der Berliner Zentral- und Landesbibliothek dringen Bibliotheksfachleute, Architekten, Stadtplaner, Buchenthusiasten, Sozial- und Migrationspolitiker, sogar Denkmalpfleger politisch nur schwer durch mit ihrer Begeisterung für den Einzug der ZLB in das einstige Kaufhaus Lafayette an der Friedrichstraße. Gleichzeitig aber sind genau die gleichen Abgeordneten bereit, Hunderte von Millionen Euro in den ebenso notwendigen Umbau der Komischen Oper zu investieren – weil es hier um die hohe Kunst geht.
Dass es in Deutschland so wenige Verbindungen aus Museum, Bibliothek und Kunstgalerie gibt, die in Großbritannien schon vor 150 Jahren auch architektonischer Standard wurde, dass praktische Ideen wie die, in Bibliotheken auch Büros der Sozialverwaltung anzubieten, so schwer zu organisieren sind, dass selbst Berlin keine Kunsthalle hat, aber einen Kunstmuseumsbau für wohl 600 Millionen Euro erhält – das alles ist kein Zufall, sondern Teil eines überaus stabilen sozialen Systems, das sich auch auf die Architektur auswirkt. Wer grandiose Neubauten für Kulturzwecke sehen will, fährt eigentlich nur dann nach Deutschland, wenn es um die Zwecke der Höheren Kultur geht – so, wie sie 1883 im Handbuch für Architektur beschrieben wurden.