Um 2007 herum traf der israelische Dokumentarfilmer Ari Folman den Londoner Komponisten Max Richter. Er wolle mit seinem Film den Gedächtnisverlust aufarbeiten, den er nach seinem Kriegsdienst im libanesischen Bürgerkrieg von 1982 erlitten hatte; ob Richter für diesen Film eine behutsame Dokumentarfilmmusik schreiben könne? Der Komponist, ohne jede Filmmusikerfahrung, überlegte einen Moment und erwiderte, wenn dieser Film doch einer über Trauma sei, dann brauche er vermutlich keine vorsichtig-zurückhaltende Dokumentarfilmmusik, sondern eine große emotionale Spielfilmmusik – denn anders lasse sich Trauma kaum erzählen …

Ich bin eingeladen, mich als Sprecher der Kreativen in der Initiative Urheberrecht (IU) zu äußern. Da es noch keine abgestimmte Position der IU-Mitgliedsorganisationen zum Thema Künstliche Intelligenz (KI) gibt, wird dies ein persönlicher Text. Die sprunghafte technologische Entwicklung bereitet uns neben Faszination und Neugier große Sorge. Wie unsere verwertenden Partner wissen auch wir, dass die gesamtgesellschaftliche Verständigung über die Rahmenbedingungen für den Umgang mit KI sofort angegangen werden muss. Und das nicht nur, aber eben auch aus urheberrechtlichen Gründen: Wer Deutschland und Europa weiterhin als Innovationsraum imaginiert, der wird nicht zulassen können, dass denjenigen, die Neues schaffen und verfügbar machen, die wirtschaftliche Basis für ihre Arbeit entzogen wird.

Betrachten wir das Urheberrecht als Micropayment-System für nicht körperliche Güter, ist dieser Zusammenhang offensichtlich. Schaffen wir es nicht, wenigstens innerhalb des klar abgegrenzten urheberrechtlichen Bereichs durchzusetzen, dass diejenigen, die die Inhalte schaffen, ohne die es keine Wertschöpfung – und übrigens auch kaum Trainingsdaten – gibt, tragfähig vergütet werden, wie wollen wir dann Crowdsourcing, Clickworking und Arbeit 4.0 jemals in ein funktionales und eben auch existenzsicherndes System übersetzen?

Sie meinen, Sie haben studiert, das betrifft Sie nicht?! Vorsicht: Durch KI geraten, anders als in den disruptiven Umwälzungen der letzten Dekaden, die hoch qualifizierten White-Collar-Jobs unter Veränderungsdruck. Juristische und steuerberatende Berufe und eben auch die künstlerischen Bereiche Drehbuch, Literatur, Fotografie, Illustration, Komposition und Textdichtung und viele mehr, Journalismus eingeschlossen.

KI-generierte Bilder gewinnen Fotowettbewerbe, KI übersetzt Texte und formuliert parlamentarische Anfragen, und die Sängerin Solina Tuuli läuft zwar in der Disco, doch Musik, Text und Stimme sind KI-generiert. Das Ende der Kulturarbeit: Wer nicht mit der Zeit geht, der geht mit der Zeit?! Nun, es ist keineswegs anzunehmen, dass durch neuronale Netze die Nachfrage nach schöpferischen Leistungen grundsätzlich entfallen wird. Sie wird sich verändern. Darauf müssen wir vorbereitet sein; dafür müssen wir verstehen; dabei müssen die schöpferisch Tätigen einbezogen werden.

Max Richter schrieb die Musik für »Waltz with Bashir«. Der Film, der als erster dokumentarischer Animationsfilm der Filmgeschichte gilt, konnte sich aussuchen, ob er in Cannes oder Berlin starten wollte und gewann anschließend so ziemlich jeden Preis weltweit – einschließlich den für die »Beste Musik« beim Europäischen Filmpreis. Womöglich kann eine KI demnächst irgendeine ähnliche Musik erzeugen; darum geht es doch aber gar nicht: Richter arbeitet empathisch, bedeutungsstiftend, kontextualisierend; sein dramaturgisches Konzept setzt auf einem initialen Regelbruch auf und ist Ausdruck der eminent künstlerischen Haltung eines Musikverantwortlichen, der den filmischen Gegenstand inhaliert, durch jede Pore als Musik ausschwitzt und sich so zu eigen macht.

Es wird Umwälzungen geben. Der eher niederschwellige Massenmarkt in Kultur und Medien ist bereits unter Druck: Agenturtexte, Stock-Fotos und Cover-Art, Auto-Tune-gestählte generische Popmusik und simple Stillevermeidungsmusik werden viel schneller, als wir es uns vorstellen und wünschen, maschinengemacht sein, was wiederum einen finanziellen Aderlass bedeuten wird, der es auch denjenigen schwermacht, deren Nachfrage zunächst nicht nivelliert wird.

Wem soll gehören, was eine KI erzeugt? Der Jurist Niklas Maamar sieht »grundlegende Fragen zur Schutzfähigkeit und der Rechtfertigung von Schutzrechten (…), die eine der ›Hauptdenksäule‹ unseres Immaterialgüterrechts, das Schöpferprinzip, auf den Prüfstand stellen«. Grund, nervös zu werden.

Aus Sicht der Betroffenen ist es umso entscheidender, bei der notwendigen Fortschreibung des Urheberrechts auf gerade dieser Grundannahme zu beharren. Laut deutschem Recht gilt der Schutz des Urheberrechts der natürlichen Person des Schöpfers und deren Verhältnis zum von ihr geschaffenen Werk. Das Schöpferprinzip unterscheidet das kontinentaleuropäische Authors’ Right vom Copyright; es ist Ausdruck unseres auf Menschenwürde basierenden Selbstverständnisses: Wir können es nicht aufgeben. Der Schöpferbindung zufolge ist das Erzeugnis einer KI nach derzeitigem Stand zunächst gar kein Werk und genießt keinen Schutz. Das Urheberrecht könnte greifen, wenn ein Mensch hinreichend schöpferisch tätig wird, wobei die KI dann als Instrument betrachtet wird. Auch ein innovationschutzrechtlich begründetes Leistungsschutzrecht am KI-Erzeugnis ist denkbar.

Aus der Konstruktion des deutschen Urheberrechts ergibt sich die Dualität von Urheberpersönlichkeitsrecht und Vergütungsanspruch. Beide Ansprüche sind bereits jetzt durch KI tangiert, etwa bei den Trainingsdaten. Deren Provenienz ist irgendwo zwischen unklar und illegal zu verorten. Rechteinhabern muss freigestellt sein, ob sie ihre Werke und Aufnahmen als Trainingsdaten freigeben oder nicht. Es muss gewährleistet sein, dass keine unlizenzierten urheberrechtlich geschützten Inhalte für das Training von KI-Systemen verwendet werden; entsprechende Regelungen sind durchsetzbar, überprüfbar und sanktionierbar auszugestalten. Wir brauchen: Lizenz- und Vergütungspflicht für Trainingsdaten, überprüfbare Transparenz über deren Art und Herkunft, angemessene Beteiligung der Rechteinhaber am wirtschaftlichen Ertrag.

Die Leistungsfähigkeit von Chat-GPT 4 hat sich im Vergleich zum Vorgänger ChatGPT 3 verfünftausendfacht – binnen weniger Monate. Gleichzeitig beendet der Hersteller OpenAI seine Open-Source-Policy – unter Hinweis auf die erheblichen Gefahren, die die völlige Freigabe eines so potenten Systems bedeuten würde. So liegt die Kontrolle in den Händen multinationaler Konzernstrukturen: inakzeptabel.

Ob ein Gegenstand durch eine KI erzeugt wurde, lässt sich aktuell noch ermitteln; das dürfte angesichts dieser Dynamik schnell enden. Sechs europäische Urheberverbände haben daher kürzlich eine Kennzeichnungspflicht für KI-Erzeugnisse gefordert; zudem gilt es gesellschaftliche Implikationen zu berücksichtigen. Die Deutsche Fotografische Akademie merkt an: »Wenn die Manipulation wie auch die Wahrhaftigkeit von dokumentarischen Darstellungen nicht mehr plausibel nachweisbar ist, verliert der gesellschaftliche Konsens seine Basis.«

Es geht also ans Eingemachte, und wir werden uns wohl oder übel auf komplizierte und abstrakte Diskussionen einlassen müssen, unter der Maßgabe, nie die Gänsehaut zu vergessen, die der Umgang mit den kulturellen Werken unserer Wahl erzeugen kann. Phrasen wie »Kultur muss man sich leisten können« können wir uns eh längst nicht mehr leisten. Wir müssen uns darüber verständigen, ob nicht schon durch manch gängigen Begriff der Gegenstand, um den wir ringen, beschädigt wird: »Content«, das sind Bits & Bytes, mit denen man Bandbreite und Abos verkauft. Kunst und Kultur, das ist prozesshafte Sinn-, Identitäts- und Gemeinschaftsstiftung.

Kurzum: Künstliche Intelligenz kann wohl weit mehr, als wir derzeit wissen und ahnen. Doch solange sie nicht eigenes Erleben durch künstlerische Praxis zu transzendieren vermag, wird sie das Eigentliche, das Originäre, das Authentische menschlicher Kunst nicht ersetzen können. Denn was ihr fehlt, ist das, was uns auszeichnet: künstlerische Intelligenz.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2023.