Sandra Winzer spricht mit dem Komponisten Moritz Eggert über das Komponieren, Gebrauchsmusik und den Einsatz von Künstlicher Intelligenz.

Sandra Winzer: Herr Eggert, Sie sagen, das Thema »Künstliche Intelligenz« ist ein unter Komponisten sehr aktuelles. Warum?

Moritz Eggert: Es macht vielen Komponistinnen und Komponisten Sorge und wird viele unserer Mitglieder treffen; aber auch andere Urheberinnen und Urheber wie Autorinnen und Autoren, Journalistinnen und Journalisten, Grafikerinnen und Grafiker oder Designerinnen und Designer sind betroffen. Viele sorgen sich, dass ein Teil ihrer Arbeit verschwinden könnte. Ich würde sogar prophezeien, dass das bis zu 95 Prozent der Kolleginnen und Kollegen betreffen kann.

Glauben Sie daran, dass Künstliche Intelligenz die Arbeit von Komponistinnen und Komponisten ablösen kann?

Man muss die momentane Entwicklung beurteilen. Das, was diese Programme können, ersetzt das, was ich »funktionale« oder »angewandte« Musik nenne, gut. Wir sprechen aber nicht von Opern oder Orchesterwerken; in diesem Bereich wird sicherlich noch eine ganze Zeit lang Individualität gefragt sein. Aber es gibt einen großen Bedarf an Musik, die einfach »benutzt« wird: für Jingles, Musik für Tiktok-Videos oder für Podcasts. Dieser Bereich der angewandten Musik ist ein großes Berufsfeld.

Auch die Rechtesituation im Musikbereich wird schwieriger. Filmproduzentinnen und -produzenten können viele Musiken benutzen, ohne Rechte zahlen zu müssen. Das kann Konkurrenz schaffen.

Ein paar Klicks, und ein Algorithmus startet die Arbeit, dann erzeugt Technik Kreatives. Kann es ihr gelingen, in der Filmmusik wirklich originell zu sein? Oder müssen wir von »scheinbarer Originalität« sprechen, die sich »nur« aus menschlichen Werken speist?

Das ist eine sehr gute Frage und eine komplexe Diskussion. An dieser Stelle dürfen wir nicht vergessen, dass diese Programme nach wie vor keine Lebewesen sind. Noch nicht. Sie haben noch kein Bewusstsein, keine Persönlichkeit. Ein wichtiger Punkt, wenn wir über etwas Genuin-Kreatives wie das Originelle am Werk sprechen. In der Kunstgeschichte der Menschheit sehen wir Individuen, die neue Ästhetik in die Welt brachten. Das ist eine noch spezifisch menschliche Leistung – es geht um Menschen mit eigenem Erfahrungshorizont, eigener Originalität. Künstliche Intelligenz verwendet das Bestehende und reproduziert daraus neue Werke. Füttere ich sie mit der Musik Gustav Mahlers, kann sie diese gut imitieren und endlos produzieren. Der Stil aber wird sich nie verändern. Sprechen wir von einem menschlichen Musiker, kann sich der Stil entwickeln – durch Einflüsse und Erfahrungen. Das fehlt diesen Programmen.

Und bei der Filmmusik?

Hier spielt die dramaturgische Komplexität eine Rolle. Bei John Williams etwa, der die Musik für »Krieg der Sterne« produzierte, geht es um einen Blick auf das Ganze. Wie er mit einem Liebesthema umgeht oder dem Imperium, einer Musik für Darth Vader – diese ist dramaturgisch begründet. Das ist komplexe Arbeit, die so schnell nicht von Algorithmen ersetzt werden kann. Eine solche Dramaturgie brauchen wir aber nicht unbedingt für Serien wie »Sturm der Liebe«. Da reicht eine passende Musik für einen Sonnenaufgang, eine für eine Frühstücksszene im Hotelzimmer. Diese kann Künstliche Intelligenz aus der endlos existierenden Musikbibliothek leicht zusammenstellen.

Ist diese Musik fähig, Emotionen auszulösen?

Ich würde sie zwar nicht kreativ nennen, auch nicht interessant. Aber weil sie aus dem schöpft, das bereits Emotionen erzeugt hat, kann auch sie Emotionen auslösen. Auf einem gewissen Basislevel funktioniert das. Bei einer Werbung für ein Erfrischungsgetränk kann eine fröhlich-jugendliche Musik Assoziationen von Gesundheit und Aktivität stützen, um mit dem Produkt ein positives Image aufzubauen.

Bleiben wir noch mal bei der Filmmusik. Kann es Algorithmen gelingen, mit einem Narrativ zu interagieren?

Auf einem bestimmten Level ist das möglich. Ein Produzent kann per Knopfdruck die Musik bekommen, die er gerade braucht. Kommt man aber zu komplexeren Narrativen, müsste ein Mensch nacharbeiten, um die Verbindungen herzustellen. Denn die Ergebnisse sind nur so gut wie die Befehle, die ich gebe. Viele Kolleginnen und Kollegen werden beim Geschäft des Komponierens an den Künstlichen Intelligenzen mitwirken und sie mit verbessern. Sie werden ständig optimiert – und dadurch auch immer besser werden.

Schauen wir auf den schöpferischen Prozess. Kreative Arbeit baute schon immer auf bereits Existierendem auf, auch Zufall spielt eine große Rolle. Inwiefern ähneln und unterscheiden sich KI und Komponistin oder Komponist bei diesem Prozess?

Auf dem momentanen technischen Stand haben Menschen den Vorteil, dass sie beim Zusammensetzen der Musik Entscheidungen aus Erfahrungen heraus treffen. Es gibt Akkorde, Harmonien und Melodien, die uns irgendwie vertraut sind. Bei Komponisten wie Strawinsky, der selbst in vielen Stilen komponierte, hört man dennoch seine Machart heraus – einen bestimmten Zugriff zum Rhythmus, eine Art zu orchestrieren. Aus seinen Vorlieben bildet sich sein Erkennungsmerkmal, etwas, das wir als »originell« bezeichnen. Während der Arbeit mit dem Werk entstehen Skizzen, die wieder verworfen werden – in diesem mühsamen und langen Prozess kristallisiert sich dann etwas heraus, das sehr persönlich ist. Das setzt ein denkendes und fühlendes Wesen voraus. Deswegen würden wir eine Oper von Strauß auch sofort als eine solche erkennen.

Der Computer dagegen speichert eine unglaubliche Menge von Daten, hat »alles« zur Verfügung. Er setzt die Kompositionen einfach aus unendlich vielen Informationen aus dem Internet zusammen. Hier entsteht das »meist verbreitetste« Ergebnis, was tendenziell eher in durchschnittlichen Ergebnissen resultiert. Musikalisch zwar korrekt, trotzdem aber möglicherweise »langweilig, leblos«. Die KI bewertet die ausgewählten Entscheidungen aufgrund von Statistik. Wie ein kleines Kind, das wahllos Legosteine neu zusammensetzt, ohne damit etwas Bestimmtes aufbauen zu wollen. In dem Moment, in dem die KI zu wirklichen »Persönlichkeiten« werden, ändert sich das Ganze – dann würde alles neu gemischt.

Braucht es also eine Absicht hinter dem Werk, um ein wahrhaft geniales Musikstück zu kreieren?

Teilweise, ja. Genauso wichtig ist aber auch die Fähigkeit der Komponistin bzw. des Komponisten unter zufälligen Entdeckungen, die »richtigen« auszuwählen. Das Gespür dafür zu haben, was uns zu einer bestimmten Zeit etwas zu sagen hat. Ein Beispiel wäre hier Richard Wagner mit seinem sogenannten »Tristan-Akkord«. Man weiß, dass er viel mit seinem Freund Franz Liszt zu tun hatte. Der Tristan-Akkord taucht schon früher in einem Lied von Liszt auf. Wagner erkannte, dass dieser Akkord ein Potenzial hat, und hat ihn in anderem Zusammenhang zu einer größeren Wirkung gebracht. Das zu spüren ist die Leistung eines Individuums. Hätte Wagner diesen Akkord zu Zeiten Mozarts entdeckt, hätte er möglicherweise keine Verwendung für diesen Klang gefunden, begründet auf der jeweiligen Zeit. Die Emotion überlebt bis heute. Es schwingt etwas in der Musik mit, das zutiefst menschlich ist. Künstliche Intelligenz interagiert noch nicht emotional mit unserer Gesellschaft. Sie durchlebt nicht dieselben Leiden, Ängste und Leidenschaften.

Stellen wir uns aber vor, dass man ChatGPT mit einer Künstlichen Intelligenz in der Musik verknüpft – dann könnten diese Programme gemeinsam filtern, was uns Menschen im 21. Jahrhundert thematisch bewegt. Vielleicht können dann auch verknüpfte Klänge entstehen. Diesbezüglich kennen wir die Ergebnisse aber noch nicht.

Sie betrachten das Thema auch mit Sorge. Um was sorgen Sie sich?

Dass wir als Menschen zunehmend die Fähigkeit des Komponierens verlieren. Für mich ist Komposition eine Arbeit, die ich gewählt habe, weil sie mir Spaß macht. Es beglückt mich, Sachen zu erfinden. Für mich wäre es absurd, wenn eine Künstliche Intelligenz das für mich erledigen würde. Als würde ich einen Roboter für mich zum Joggen oder Fußballspielen schicken. Eine Hobbymalerin, die Freude daran hat, mit Farben zu arbeiten, würde auch nicht sagen: »Male ein Bild mit Sonnenblumen.« Sie würde selbst zum Pinsel greifen wollen. Diese Motivation könnte seltener werden, das könnte uns langfristig auch als Gesellschaft verändern. Es gibt aber sicher auch Menschen, die diese Motivation nicht so stark antreibt, die das Komponieren eher als Handwerk sehen, das sie bei ihrem Einkommen unterstützt.

Menschliche Kompositionen könnten sich dann möglicherweise wieder stärker vom künstlich Komponierten abheben …

Das wird sicherlich passieren. Auch heute schon erfahren selbstgemachte Produkte wieder mehr Wertschätzung. Wir schätzen gute Köche mehr als Fast Food oder Frittenbuden.

Herr Eggert, die Künstliche Intelligenz wird weiter vordringen – auch in der Kultur- und Kreativbranche. Wenn Sie entscheiden könnten, was zwischen Mensch und KI passiert – kann es sinnvolle Synergien geben?

Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind gleichzeitig verängstigt und gespannt auf das, was kommt. In einigen Bereichen sagen sie, dass KI an Problemen arbeitet, die wir mit unserem menschlichen Verstand gar nicht so umfänglich umreißen könnten. Gleichungen in komplexer Astrophysik, die vom Menschen gar nicht mehr gerechnet werden könnten. Auch im Verkehrswesen: Wir Menschen könnten beispielsweise die Netzwerke aus Verkehrsführung, Leitungen und Stau nicht auf die gleiche Weise erfassen.

Bei Fragen der Kunst kann ich mir vorstellen, dass Kompositionen möglich werden, die bisher noch nicht möglich waren, hinsichtlich ihres Aufwandes zum Beispiel. Partituren mit sehr viel Schreibarbeit, an der Menschen möglicherweise jahrelang sitzen würden, um die Stimme für jedes Instrument niederzuschreiben. Vielleicht erreichen wir Dimensionen von Musik, die wir so bisher noch nicht kannten.

Trotzdem würde ich immer sagen: Auch das ist nur in Zusammenarbeit mit einem kreativen menschlichen Geist möglich. Mit einer Vision, die ein Computer allein nicht haben kann, weil der bislang »nur« aus Vorhandenem schöpft.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2023.