Der völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf die Ukraine hat die Welt erschüttert. Wir sind fassungslos. Das unermessliche Leid der Menschen macht uns tief betroffen. Wie viele Menschen verlieren sinnlos ihr Leben, wie viele Bürgerinnen und Bürger der Ukraine sind auf der Flucht und müssen ihre Heimat verlassen. Die deutschen Städte stehen fest an der Seite der Ukraine. Die Bürgerinnen und Bürger zeigen ihre Solidarität und ihren Beistand mit praktischer Hilfe und Spenden, in Worten und mit Friedensdemonstrationen. Wir setzen alles daran, die Werte von Frieden, Freiheit und Demokratie hochzuhalten. Wir sind uneingeschränkt solidarisch mit der Ukraine und den Menschen, die dort leben und fliehen müssen. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer sind gezwungen, ihr Land und ihr Zuhause zu verlassen. In unseren Städten sind die geflüchteten Menschen willkommen. Wir wollen Schutz und Zuflucht bieten, die Menschen gut unterbringen und versorgen. Aber auch die moralische Unterstützung und Ermutigung sind bedeutend. Dafür steht die Kultur. Die Bilder und Klänge des Orchesters in Kiew und des Chors in Odessa, die mit dem Mut der Verzweiflung gegen den Krieg anspielen und -singen, haben sich unvergesslich in unsere Herzen gebrannt. Sie sind Sinnbilder des Kampfs der Zivilisation, des Guten und Schönen gegen die Barbarei des Krieges.

Mit dem kulturellen Erbe wird gleichzeitig Identität zerstört

Ein bedeutendes Ziel kriegerischer Angriffe ist das Kulturerbe einer Nation, sind historische Bauten oder Stätten von besonderer kultureller Bedeutung. Mit dem Angriff auf kulturelle Stätten trifft man auch die Seele eines Landes. Es soll nicht nur die Infrastruktur zerstört werden, sondern auch das sinnstiftende Element. Zerstört wird auch das, was die Menschen verbindet, zusammenhält, ihnen Kraft gibt. Wer das Kulturerbe bombardiert, löscht die Geschichte aus, sagt die Leiterin des Khanenko-Museums in Kiew, Yulija Vaganova. Bei einem russischen Angriff auf Kiew ist bereits ein jüdischer Friedhof bei der Holocaust-Gedenkstätte Babyn Jar getroffen worden. In Odessa, Perle der Architektur und Kultur, schützen die Bürgerinnen und Bürger ihr Denkmal des Herzogs Richelieu mit Sandsäcken – das Bild geht um die Welt. Die dortige Oper ist mit Barrikaden geschützt. Die Ukrainerinnen und Ukrainer tun alles, um nicht nur ihr Land und seine Bewohnerinnen und Bewohner, sondern auch ihre Kultur zu beschützen. Bereits in anderen Kriegen und kriegerischen Auseinandersetzungen sind kulturelle Stätten, die zum Teil einzigartige kulturelle Zeugnisse für die ganze Welt darstellen, gezielt zerstört worden.

Unterstützung ukrainischer Künstlerinnen und Künstler

Wo Menschenleben vernichtet werden, wird das Kulturerbe nicht verschont bleiben. Wir können ein aktives Signal für die ukrainische Kultur setzen und sollten ukrainische Künstlerinnen und Künstler umfassend unterstützen. Viele kommunale und freie Kultureinrichtungen, Kulturschaffende, Künstlerinnen und Künstler haben sich bereits solidarisch mit der Ukraine erklärt und Zeichen für den Frieden gesetzt. Viele Hilfsmaßnahmen sind schon angestoßen worden. Wir haben uns als Deutscher Städtetag gemeinsam mit Bund und Ländern darauf verständigt, den geflüchteten Künstlerinnen und Künstlern schnell und unbürokratisch zu helfen. Sie sollen die Gelegenheit haben, künstlerisch zu arbeiten. Unsere kommunalen Kultureinrichtungen zeigen in vielfacher Weise Solidarität. Sie organisieren Sonderkonzerte, Auftritte, Ausstellungen und vieles mehr. Auch in unseren Städtepartnerschaften sehen wir große Chancen. Sie bauen auf die Verbindungen von Mensch zu Mensch und können damit gerade jetzt Friedensbrücken sein. Oft dienen sie auch dem kulturellen Austausch. Wir haben uns daher auch dagegen ausgesprochen, die Städtepartnerschaften zu russischen Städten per se zu beenden.

Kritische russische Kultur stärken, Kooperationen prüfen

In den letzten Wochen sind viele Diskussionen über den Umgang mit russischen Künstlerinnen und Künstlern aufgekommen, nicht zuletzt durch so bekannte Namen wie Waleri Gergijew und Anna Netrebko. Waleri Gergijew ist wegen seiner Nähe zu Putin und zu dessen politischer Agenda als Chefdirigent der Münchner Philharmonie entlassen worden. Anna Netrebko ist ebenfalls aus vielen Engagements verabschiedet worden. Sie hat sich von der Politik des russischen Präsidenten nicht eindeutig distanziert. Die Fälle von Gergijew und Netrebko sind eindeutig. Es ist jedoch nachdrücklich davor zu warnen, die russische Kunst und Kultur nun ganz und gar zu verdammen. Die Gefahr ist groß, dass in dem verständlichen Wunsch, die Ukraine zu unterstützen und sich solidarisch zu zeigen, sämtliche russische Kultur in Mithaftung genommen wird. Welche Forderungen kann man legitimerweise gegenüber Einzelnen erheben, wie weit darf eine »Gesinnungsprüfung« gehen? Wir müssen in jedem Einzelfall prüfen, wo eine Zusammenarbeit möglich und sinnvoll ist und wo nicht. Der Staat und alle staatlichen Ebenen sind hier ganz besonders zu Zurückhaltung aufgefordert. Diese Zurückhaltung endet bei staatlichen Institutionen, die das Regime Putin tragen oder bei Kulturakteurinnen und -akteuren, die sein Regime politisch unterstützen. Künstlerinnen und Künstler, die offen das Regime in Russland kritisieren, benötigen unsere umfassende Unterstützung. Die Kunst ist ein Reflexionsmedium für die Gesellschaft und ein Sprachrohr für gesellschaftliche Konflikte. Sie problematisiert politische Entwicklungen und ist oftmals explizit kritisch gegenüber den Herrschenden aufgestellt. Die transformative Kraft von Kunst und Kultur gilt es daher so weit wie möglich zu unterstützen und zu stärken.

Ukraine-Erklärung von Bund, Ländern und Kommunen

Im Kulturpolitischen Spitzengespräch haben sich die Kulturministerinnen und -minister von Bund und Ländern und die kommunalen Spitzenverbände auf eine gemeinsame Erklärung zum Ukraine-Krieg verständigt. In ihr wird festgestellt, dass sich der Krieg auch gegen die gemeinsame europäische Kultur richtet. Er zerstört Zeugnisse des kulturellen Erbes. Wir dürfen nicht nachlassen in unserer Solidarität, auch wenn der Krieg andauert. Die Menschen, die zu uns kommen, benötigen unsere Hilfe und Unterstützung. Die Menschen, die in der Ukraine bleiben, benötigen unsere moralische Ermutigung. Ich hoffe von Herzen, dass der Mut der Ukrainerinnen und Ukra­iner nicht vergeblich sein wird.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2022.