Am Morgen des 24. Februars endete in Deutschland und ganz Europa endgültig die Nachkriegsordnung, in der völkerrechtswidrige Angriffe auf souveräne Nachbarländer ausgeschlossen waren. Bundeskanzler Olaf Scholz prägte zu Recht den Begriff der »Zeitenwende« für das, was wir derzeit erleben. Dies ist der Ernstfall für die europäische und transatlantische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, den wir uns noch vor Kurzem nicht vorstellen konnten. Mit ihm geht auch die Frage einher, welche Konsequenzen sich für den akademischen Austausch und die wissenschaftliche Kooperation, also für die »Science Diplomacy« mit Blick auf die Ukraine, aber auch auf Russland als Aggressorstaat ergeben. Die deutschen Wissenschaftsorganisationen haben nach dem 24. Februar schnell reagiert und ihre Solidarität mit der Ukraine sowie ein Einfrieren des wissenschaftlichen Austauschs mit Russland verkündet. Als DAAD halten wir in dieser schwierigen Situation alle Kooperationen mit ukrainischen Partnern aufrecht, auch alle Fördermöglichkeiten in Deutschland. Gemeinsam mit unseren Mitgliedshochschulen sind wir zudem dabei, Kooperationen in den digitalen Raum zu verlegen, um sie trotz des Krieges möglichst lange beizubehalten.
Auch die deutschen Hochschulen sind umgehend mit eigenen Hilfsprogrammen aktiv geworden. Dieses lobenswerte Engagement wird aber mit Blick auf die erwartbare Zahl an Menschen, die aus der Ukraine zu uns kommen werden, nicht ausreichen können. Aktuelle Schätzungen gehen von bis zu 100.000 Studierenden, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus, die zu uns kommen werden. Entsprechend hat der DAAD frühzeitig ein großes Unterstützungsprogramm für die deutschen Hochschulen angemahnt. Es sollte mehrere Säulen umfassen, die sich bereits in anderen Konflikten bewährt haben:
- Stipendien für ukrainische Studierende, Promovierende und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie die unbürokratische Verlängerung der Förderung für diejenigen, die bereits bei uns sind;
- Unterstützung der deutschen Hochschulen bei der Betreuung und Begleitung der Ukrainerinnen und Ukrainer während der Förderung und darüber hinaus;
- Unterstützung der deutschen Hochschulen bei der fachlichen und sprachlichen Weiterqualifikation von akademischen Fachkräften mit Blick auf den deutschen Arbeitsmarkt;
- Unterstützung der deutschen Hochschulen bei der Entwicklung und Bereitstellung von digitalen Angeboten für ihre ukrainischen Partnerhochschulen, solange diese ihren Betrieb aufrechterhalten können;
- Leadership-Programme für zukünftige Führungskräfte, die nach einer späteren Stabilisierung der Lage Leitungsfunktionen in der Ukraine übernehmen werden.
Für ein solches Programm wären im Vollausbau 80 Millionen Euro jährlich notwendig. Es würde die Hochschulen dazu befähigen, umfassend und zeitnah eine Perspektive für Studierende und Forschende aus der Ukraine zu entwickeln. Mit Blick auf Russland ergeben sich für die Außenwissenschaftspolitik nach dieser Zeitenwende zwei Leitprinzipien, an denen sich deutsche Wissenschaftsorganisationen und Hochschulen orientieren müssen, wenn sie dies nicht bereits tun: Alle Maßnahmen zu Russland müssen zum Sanktionsregime der Bundesregierung und der Europäischen Union passen. Gleichzeitig müssen auf individueller Ebene Gesprächskanäle dort, wo vertretbar, offengehalten werden. Der DAAD hat daher seine Kooperationen mit Russland bis auf Weiteres eingefroren. Fördergelder können nicht mehr nach Russland fließen. Daher sind alle Stipendien nach Russland abgesagt und aktuelle sowie zukünftige Auswahlen ausgesetzt worden. Unsere Mitgliedshochschulen sind ebenfalls aufgefordert, Projekte mit DAAD-Förderung in Russland auszusetzen. Gleichzeitig halten wir die Mobilität von Russland nach Deutschland ganz bewusst offen. Als »letzte Brücke« bietet sie russischen Studierenden und Forschenden, die sich mit oftmals großem persönlichem Risiko gegen den Krieg aussprechen, einen Weg an deutsche Hochschulen.
Gemeinsam mit der Hochschulrektorenkonferenz haben wir zudem Weltoffenheit und Toleranz an den deutschen Hochschulen auch in diesen schwierigen Zeiten angemahnt und jede Form der Diskriminierung gegen russische Studierende und Forschende, die bei uns sind, verurteilt. Auch wenn derzeit die Nothilfe zu Recht im Mittelpunkt steht, sollten wir bereits jetzt über sie hinausdenken. Für die Ukraine sind verschiedene Szenarien denkbar – vom vollständigen Verlust der Staatlichkeit und eigenständiger Hochschulen über einen lang andauernden (Partisanen-)Krieg bis hin zu einem Waffenstillstand und einem rasch einsetzenden Wiederaufbauprogramm; auf Letzteres hoffen wir derzeit alle. Der DAAD wird zeitnah »Science-Diplomacy«-Strategien für solche Szenarien und ihre Auswirkungen auf die wissenschaftliche Zusammenarbeit erarbeiten.