Während das ukrainische Volk einem Angriffskrieg ausgesetzt ist, der jeden Tag schrecklichste Opfer fordert, tobt in unseren sozialen Medien und Feuilletons ein Luxuskrieg darüber, wie am besten mit der Situation umgegangen werden soll. Die Aufkündigung der Zusammenarbeit mit z. B. Waleri Gergijew oder Anna Netrebko – die prominentesten Beispiele – werden heiß und kontrovers diskutiert in einer ohnehin schon von Angst vor einer »Cancel Culture« aufgeheizten Atmosphäre.

Ein beliebtes Argument ist hierbei die »Souveränität« der Kunst –als wäre sie mit einem Staat oder einem Land vergleichbar –, gerne werden auch kitschige Bilder wie das der »völkerverständigenden« Kraft der Musik bemüht. Als ob es vollkommen egal sei, wer da vorne spielt oder dirigiert, Hauptsache, man liegt sich danach rührselig in den Armen und kann alles vergessen, am besten mit ein paar Häppchen und einem Glas Sekt.

Diese Argumentation macht die Musik dümmer, als sie eigentlich ist. Und vor allem macht sie die Protagonisten der Musikszene dümmer, als sie es in Wirklichkeit sind.

Kultur braucht immer einen Kontext. Ein Ton, ein Akkord, ein Farbklecks auf einer Leinwand – das alles sind allein noch keine politischen Statements wie es vielleicht Worte sein können. Sie finden aber in einem Kontext statt, der sehr wohl politisch ist. Und die Kunst wird von lebendigen Personen gemacht, die in einer politischen Situation agieren und darin auch eine Stimme haben, selbst wenn sie sich entscheiden, diese nicht zu erheben – auch unpolitisch zu sein ist politisch. Diese Personen machen Karrieren und treffen Entscheidungen, die mit einer politischen Situation zu tun haben, selbst wenn sie dies gar nicht wollen.

In den langen Jahren des europäischen Friedens haben viele von uns vergessen, wie gefährlich es eigentlich sein kann, Kunst zu machen. Wir haben hierzulande schon lange nicht mehr erlebt, wie Kunst wegen Staatsrepressalien oder religiösem Fundamentalismus unterdrückt wird. Aber auch unsere hiesige Kunst war die letzten Jahrzehnte sehr »politisch«, ohne dass wir es merkten, denn die Idee einer freien und vom Staat zwar geförderten, von seinem Einfluss aber unabhängigen Kunst ist an sich schon ein Statement, das nicht jeder Ideologie passt und konträr zu dem steht, was in vielen Ländern – darunter auch Russland und China – praktiziert wird. Wir schmunzelten über die Karikaturen von Charlie Hebdo, anderswo galten sie als politisches Statement, dem man mit Gewalt begegnen muss.

Sind Künstler und Musiker harmlose Naivlinge, die von all dem nichts wissen? Wenn Anna Netrebko in ihren Tweets vorgibt, »unpolitisch« zu sein, verheimlicht sie, dass ihre ganze Laufbahn Resultat politischen Agierens war. Daher kann sie nicht in einem Moment, in dem sie Farbe bekennen muss, so tun, als sei ihr dies plötzlich nicht möglich, als sei sie plötzlich nichts weiter als ein armes kleines unschuldiges Mädchen, das nur singen will.

Wer wie Netrebko oder Gergijew proaktiv, ohne Zwang und bei völliger geistiger Gesundheit einen Weg beschritten hat, der ganz bewusst die opportune Nähe zur Macht gesucht hat, muss in Kauf nehmen, dass dies in dem Moment kritisch werden kann, wenn diese Macht unmenschlich und verachtungswürdig agiert. Dass solche Persönlichkeiten im aktuellen Moment nach ihrer Positionierung gefragt werden, ist nicht Ausdruck einer übertriebenen »Cancel Culture«, sondern direktes Resultat ihres vorherigen Agierens. Die öffentliche Positionierung war Teil ihrer Karrierestrategie.

Was viele der Gergijew-Verteidiger z. B. gerne vergessen, ist die Tatsache, dass es nicht nur für die vielen Ukra­iner in München – Kiew ist die Partnerstadt Münchens – unerträglich gewesen wäre, einen bekennenden Unterstützer und Vertreter der Putin-Politik weiterhin dirigieren zu sehen. Denn auch ohne Worte macht Gergijews Taktstock indirekt Putin-Propaganda, denn er schlägt nur an diesem Ort, weil eine politische Karriere ihn dahin geführt hat. Die Kündigung gegen Gergijews richtet sich weniger gegen ihn selbst, sie ist eine Rücksichtnahme auf das Publikum, dem man die Person Gergijews nicht mehr zumuten kann und möchte. Das hat nichts mit seinem Dirigat zu tun, allein mit ihm. Man kann Kunst von ihren Schöpfern trennen, das ist leichter, wenn diese nicht mehr unter uns sind. Aber manchmal agieren die lebenden Schöpfer so unerträglich, dass sie ihre eigene Kunst überschatten. Auch ein Schweigen – wie im Fall Gergijews – kann als unerträglich empfunden werden, das Schweigen in Deutschland zwischen 1933 bis 1945 angesichts unserer Naziverbrechen war es auch. Da Netrebko und Gergijew diesen Weg der Macht gegangen sind – anders als z. B. die vielen russischen Künstlerinnen und Künstler, deren große internationale Karrieren ohne Nähe zu Putin zustande kamen – mussten sie auch immer das mögliche Risiko einkalkulieren, »unerträglich« zu werden. Das Mitleid mit ihnen sollte sich daher in Grenzen halten, zu dieser Lebensentscheidung hat sie niemand gezwungen, genauso wie auch ein Herbert von Karajan nie dazu gezwungen wurde, eines der ersten NSDAP-Mitglieder zu werden.

Anders liegt der Fall, wenn es um Künstlerinnen und Künstler geht, die nicht im Rampenlicht stehen, die keine öffentliche Rolle einnehmen. Es ist völlig absurd, von jeder Russin und jedem Russen eine öffentliche Positionierung zu verlangen, wenn sie keinerlei öffentliche Rolle einnehmen und dem System auch nicht öffentlich dienen. Wenn Menschen ihre politische Gesinnung zur Privatsache machen und sie nicht hinausposaunen, gebührt es der grundsätzliche Respekt, diese nicht zu erzwingen. Russische Orchestermusiker und Musikstudenten repräsentieren nicht automatisch das »System Putin«, zum größten Teil sind sie gerade wegen des Systems Putin hier und nicht in Russland. Noch ist keine allgemeine »Russenhetze« zu spüren, sollte es diese je geben, müssen wir ihr aber dringend Einhalt bieten, denn sie wäre unmenschlich und ungerecht.

Wer sich aber – Russe oder nicht – bewusst zum opportunistischen Sprachrohr der Mächtigen macht, muss einkalkulieren, dass der Preis der Macht sehr hoch sein kann. Nämlich dann, wenn sich diese Macht als etwas erweist, dem man lieber nicht hätte dienen sollen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2022.