Der Russland-Experte Hans-Henning Schröder spricht mit Ludwig Greven über die tieferen Gründe für Putins Krieg gegen die Ukraine, über seinen möglichen Sturz und weshalb der Kahlschlag in der deutschen Osteuropa-Forschung nach 1989 verhängnisvoll war.

Ludwig Greven: Sie beklagen, wie andere schon lange, dass die früher hohe wissenschaftliche Expertise und Forschung in Deutschland zu Osteuropa und Russland nach dem Ende des Kalten Kriegs und des Sowjetimperiums sträflich abgebaut wurde. Hätte mehr Wissen der deutschen Politik geholfen, besser zu verstehen, was sich in Russland verändert hat und was Wladimir Putin vorhatte?

Hans-Henning Schröder: Das hängt auch daran, was Politiker bereit sind, von Wissenschaftlern und aus der Gesellschaft zu lernen. Bis in die 1990er Jahre hatten wir an den Universitäten viele Lehrstühle, die sich mit der Sowjetunion und dem sowjetischen System befassten, wir hatten eine außeruniversitäre Forschung, die massiv mit Bundesmitteln finanziert wurde. Das alles ist weggebrochen. Die Lehrstühle wurden umgewidmet. Gehalten haben sich nur Regionalforscher, Slawisten und Osteuropa-Historiker.

Russland ist aber nicht irgendein Land, sondern eine bedeutende ­europäische und wie wir nun endgültig wissen sehr aggressive Macht. Weshalb ist dazu nicht weiter intensiv geforscht worden?

Der Bund hat massiv gekürzt. 2000 wurde das von mir geleitete Ostwissenschaftliche Institut in Köln aufgelöst. Und es gab von außen keine Nachfrage. Politiker sagten mir:
Jetzt ist dort Demokratie, da brauchen wir euch nicht mehr, wir fragen die jetzt selbst.

Dennoch gab es viele Kontakte zu Russland, auch durch den Bergedorfer Gesprächskreis und andere deutsch-russische Foren, und die Medien. Und es gibt den BND. Weshalb wurde die Politik trotzdem so überrascht, warum wurde Putin so falsch eingeschätzt?

Ich weiß nicht, was der BND gesagt hat. Die US-Geheimdienste haben jedenfalls sehr konkret gewarnt. Bei den russlandnahen Foren und den Parteistiftungen gab es ein unterschiedliches Bild. Spätestens seit 2010/11 war klar, dass die russische Zivilgesellschaft stark unter Druck geriet und Russland abglitt in ein autoritäres repressives System. Die Stiftungen sind damit nicht an die Öffentlichkeit gegangen, weil sie ihre Gesprächsfäden behalten wollten und weil sie selbst unter Druck gerieten. Im wissenschaftlichen Austausch gab es ebenfalls zunehmend Probleme. Wissenschaftler haben die Veränderungen gesehen, aber das sagt ja noch nichts darüber aus, wie sich ein Staatschef verhält und ob er einen großen Krieg beginnt.

Wie haben Sie es gesehen?

Auch ich habe bis zum 23. Februar nicht erwartet, dass Putin eine solche Gewaltorgie starten würde. Wie andere Kollegen habe ich beobachtet, dass die russische Seite in den vergangenen Jahren immer weniger gesprächswillig war, dass sie Forderungen aufstellen, aber nicht bereit sind, Kompromisse einzugehen – in den Monaten vor dem Einmarsch verschärft. Auch die Politiker und Diplomaten in Washington und Europa mussten erkennen, dass Verhandlungen nichts mehr brachten. Deshalb scheiterten alle Gespräche, auch von Emmanuel Macron und Olaf Scholz mit Putin.

Was ist der Grund für diesen tiefen Wandel?

Entscheidend waren die Proteste 2010 und 2011 gegen die Wahlfälschungen. Sie waren für die russische Führung ein Schock. Ab da hat sie begonnen, den Westen als Feind zu betrachten. Nicht weil er Russland militärisch bedroht, sondern weil er die Gemüter der jungen Menschen mit demokratischen, freiheitlichen Gedanken zersetzt. Schon vorher gab es die Farben-Revolutionen in Georgien und der Ukraine. Es begann daraufhin eine massive nationalistische Propaganda. Rechtsnationale Propheten wurden ausgepackt, der Unterschied zwischen dem Westen und »uns Russen« wurde ständig hervorgehoben. 2014 folgte die Eroberung der Krim. Der größte Patriot war nun Putin, mit gewaltiger Unterstützung in der Bevölkerung. Das hat also funktioniert und schrie nach Fortsetzung. Wenn man sich die Reden von Putin seitdem anschaut, hat sich das immer weiter verfestigt. Er begann zurückzudenken an das Zarenreich und eine Geschichte zu konstruieren, in der sich von Wladimir dem Heiligen bis heute eine Linie durchzieht. Historisch betrachtet völliger Unsinn. Aber es wirkte. Er bläute den Russen ein, »wir waren immer die Größten, seit Peter dem Großen sind wir ein Weltreich, wir haben Hitler-Deutschland niedergerungen«. Aus diesem Selbstbild entstand der Anspruch, wieder eine Großmacht mit Interessensphäre zu sein. Dazu gehören Belarus, Kasachstan und vor allem die Ukraine.

Steckt neben der Angst vor dem eigenen Machtverlust dahinter eine Art nationale Kränkung, dass Russland in Wahrheit nur noch eine Regionalmacht und wirtschaftlich ein Zwerg ist?

Das kann man so sehen. Jedenfalls ist es wohl ein Motiv, das Putin antreibt.

Tun sich Wissenschaftler und westliche Politiker auch deshalb so schwer mit Putin, weil sie es gewohnt sind, internationale Konflikte rational zu betrachten, als Auseinandersetzung um nationale und geostrategische Interessen, wie auch im Kalten Krieg, nicht um großnationale Wunschträume?

Das russische Denken und die russische Kultur sind ganz anders geprägt als bei uns. Es gibt dort kaum eine demokratische liberale Tradition. Mit den sowjetischen Führern konnte man hart verhandeln und Kompromisse erzielen. Bei Putin gibt es keine Verhandlungsbereitschaft. Er und die anderen Herrschenden in Russland hatten offensichtlich in den vergangenen Jahren das Gefühl, dass sie mit dem Rücken an der Wand standen, auch ökonomisch und technologisch. Dazu kam die internationale Finanzkrise, die bewirkte, dass die Reallöhne in Russland sanken und die latente Unzufriedenheit wuchs. Und dann die Internet-Revolution. Plötzlich hatte mehr als die Hälfte der Russen ein Smartphone und war mit der Welt verbunden. Vorher konnte die Führung durch die Presse und das staatliche Fernsehen die Öffentlichkeit kontrollieren. Nun begannen Nawalny und andere, Korruption aufzudecken und über Blogs und soziale Medien alternative Informationen zu verbreiten. Das führte dazu, dass die Zustimmung zu Putins Partei »Einig Russland« auf 30 Prozent sank. Deshalb mussten Wahlen gefälscht werden, Bürger gingen dagegen auf die Straße. Als Reaktion wurden das Internet kontrolliert und Trollfabriken gegründet. Und es wurde eine nationalistische Ideologie geschaffen, die anknüpft an eine lange russische Geschichte von Slawophilen und Rechtsnationalisten auch in der Sow­jetzeit. Jetzt haben wir es mit einer Schicht von Herrschenden zu tun, die in ihrem eigenen Traum gefangen ist und da nicht mehr rauskommt.

Als Putin 2000 an die Macht kam und in seiner Rede im Bundestag 2001 hat er noch anders geredet. Weshalb hat er sich so verändert, oder hat er sich gar nicht geändert?

Da kamen zwei Dinge zusammen. Unter Boris Jelzin ist in Russland binnen weniger Jahre eine extrem ungerechte Gesellschaft entstanden. Wenigen Oligarchen gehörte mehr als Hälfte des Volksvermögens. Putin wurde dadurch populär, dass er gegen einige der Oligarchen vorging und dass ab 2000 der Ölpreis stark stieg. Geld floss in die Staatskasse, er konnte Wohltaten verteilen. Der Sozialvertrag hieß ab da: Ihr mischt euch nicht in die Politik ein, wir versorgen euch. Dieses Herrschaftsmodell endete mit der Finanzkrise 2008, als der Ölpreis einbrach. Da war nichts mehr zu verteilen, die Spannungen in der Gesellschaft nahmen zu, die großen sozialen Unterschiede begannen zu knistern. Putin versucht dagegen zu integrieren durch seine nationale Erzählung und indem er Kritiker und Oppositionelle einsperrt oder umbringen lässt, um zu verhindern, dass die Gesellschaft und das politische System auseinanderfliegen.

Die Aggression nach außen ist also im Grunde innenpolitisch getrieben?

Ja. Dazu kommt, dass er sich von westlichen Politikern nicht ernst genommen fühlte. Er sagte, die Nato soll nicht erweitert werden – wir haben sie erweitert. Das wollten vor allem die Sicherheitspolitiker, und die Polen und anderen Osteuropäer wollten unter den Schirm des westlichen Bündnisses. George W. Bush hat das Abkommen über die strategischen Atomwaffen aufgekündigt, das Abschreckungssystem funktionierte nicht mehr. Barack Obama nannte Russland eine Regionalmacht – was der Realität entspricht, aber unklug war. Und Donald Trump kündigte den INF-Vertrag über die Mittelstreckenraketen. Das waren alles Punkte, bei denen man in Moskau den Eindruck hatte, der Westen knallt uns vor den Koffer.

Ist Putin Alleinherrscher? Gibt es noch Leute, die ihn beeinflussen, stoppen, gar stürzen können?

Putin war bis zum Kriegsbeginn der einzige Politiker, der in der russischen Bevölkerung breites Vertrauen und Akzeptanz genoss. Das hat er gewonnen vor allem durch die fetten Jahre 2000 bis 2008. Und er ist der Einzige, der das Elitenkartell, das Russland seit der Jelzin-Zeit beherrscht, integrieren konnte. Dazu gehören Banker, Öl-, Gas- und Nickel-Fürsten, die Leiter der Geheimdienste, die Führer des Militärs und Gouverneure großer Regionen. Die handeln die Politik intern aus. In der Ukraine ist es ähnlich, nur wurden da die Konflikte öffentlich ausgetragen. In Moskau hat Putin diesen kleinen Zirkel lange Zeit intelligent moderiert und eine Balance zwischen den verschiedenen Fraktionen hergestellt. Das hat sich verschoben, es sind immer mehr Geheimdienstler und Beamte hineingekommen. Seit Corona hat sich Putin immer mehr isoliert.

Wenn nun aber Teile der Führung zur Überzeugung kämen, er müsse abgelöst werden, weil er Russland zugrunde richtet: Wer könnte ihm nachfolgen?

Ein Nachfolger müsste erstens vom Volk akzeptiert werden. Da sehe ich im Moment niemanden, auch weil die Bevölkerung sehr unzufrieden ist und unter den Folgen des Kriegs und der Sanktionen massiv leidet. Und er müsste zweitens einen Interessenausgleich zwischen den verschiedenen Fraktionen der Elite herstellen. Das wird ebenfalls schwierig.

Kann Putin das noch?

Er hat kaum noch Kontakte und trifft offensichtlich immer einsamer Entscheidungen. In Moskau wird kolportiert, dass selbst führende Leute im Präsidialamt nichts wussten von seinem Einmarschbefehl.

Müssten die Oligarchen und die Militärführung nicht rebellieren, weil er ihren finanziellen Interessen massiv schadet, da Russland nun bald ganz von der Weltwirtschaft abgeschnitten ist und die russische Armee in der Ukraine starke Verluste erleidet, ihr sogar eine Niederlage droht?

Früher hätte Putin abgefragt, was der Krieg für die Exporte und die Finanzmärkte bedeuten würde. Das hat er offensichtlich nicht gemacht. Er hat weder den Wirtschaftsminister noch die Chefin der Zentralbank konsultiert, sondern mit seinem Generalstabschef einen schnellen Sieg geplant. Nun ist er politisch im Grunde tot, er weiß es nur noch nicht. Man hat den Kadaver noch nicht weggetragen. Eine Reihe von Oligarchen hat durchblicken lassen, dass sie den Krieg für verhängnisvoll halten. Das sind klare Signale. In der Führung und bei denen, die ökonomisch das Sagen haben, ist klar, dass sie den Krieg verloren haben, selbst wenn ­Putin ihn militärisch gewinnen sollte, weil er Russland wirtschaftlich an die Wand gefahren hat.

Wie und wann könnte er stürzen?

Erst wenn der Krieg vorbei ist. Jeder, der ihn vorher stürzt, würde für die Niederlage verantwortlich gemacht. Es braucht dann einen neuen Führer, der im Westen Vertrauen gewinnt und dafür sorgt, dass die Sanktionen zurückgenommen werden. Das wird nicht leicht, auch weil niemand zu erkennen ist, der das Machtkartell in Moskau wie Putin einigen kann.

Kann es sein, dass Putin, wenn er auch intern in die Enge getrieben wird, zu Atomwaffen greift?

Die Frage, ob er sich zu einem kollektiven Selbstmord entschließt, wenn er merkt, dass er am Ende ist, ist berechtigt. Ich weiß nicht, wie viel Ratio er noch besitzt. Was uns retten könnte ist, dass Russland wie die Sowjetunion und USA ein abgestuftes System hat für das Auslösen eines Atomkriegs. Ich hoffe inständig, dass Generalstabschef Waleri Gerassimow, der den letzten Knopf drücken muss, ihn verhindern würde.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2022.