Sag mir, ob du für oder gegen den Präsidenten deines Heimatlandes bist. Sag mir, ob du für oder gegen den Krieg bist, den dieser Präsident veranlasst hat. Dann sage ich dir, ob du bei uns im Konzert auftreten darfst oder ob wir uns voneinander trennen.« So oder ähnlich lauteten seit Ausbruch des Ukraine-Krieges Fragen, die vielen aus Russland stammenden Künstlerinnen und Künstlern außerhalb ihrer Heimat gestellt wurden. Prominenteste Protagonistin: die weltweit gefeierte Sopranistin Anna Netrebko. Prominentester Protagonist: der Dirigent Waleri Gergijew, unter anderem Chef der Münchner Philharmoniker.
In den deutschen Berufsorchestern, die sich aus Mitgliedern unterschiedlichster Herkünfte zusammensetzen, auch aus Russland und der Ukraine, hat der völkerrechtswidrige Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine blankes Entsetzen ausgelöst, ebenso wie in weiten Teilen der Gesellschaft. Es gibt kaum ein Orchester, das in den vergangenen Wochen nicht spontan Stücke ukrainischer Komponisten kurzfristig auf das Programm gesetzt oder in Benefizveranstaltungen Spenden für Betroffene gesammelt hat. Immer wieder haben dabei aus Russland oder der Ukraine stammende Orchestermitglieder im Konzert das Wort ergriffen und gegen den Krieg, für Frieden und für das Selbstbestimmungsrecht der Menschen in der Ukraine plädiert.
Manche Orchester vereinen Menschen aus bis zu 30 Nationen, aus allen fünf Kontinenten, in ihren Reihen. Viele davon haben in Deutschland oder Europa Musik studiert und sich schließlich auf »ihr« Orchester in Deutschland, dessen Selbstverständnis und Traditionslinien, eingelassen. Auch deswegen, weil alle anderen Orchestermitglieder nach gewonnenem Probespiel und mindestens einem Jahr Probezeit mehrheitlich der Auffassung waren, dass genau diese Person künstlerisch, menschlich und musikalisch in den Organismus passt und sich gut einfügt, unabhängig von nationaler Herkunft.
Im Orchesteralltag spielen nationale Herkünfte kaum eine Rolle, allenfalls dann, wenn es gelegentlich gilt, besondere nationale Eigenheiten – Klischees? – in den Kontext künstlerischer Programmgestaltung zu bringen, z. B. den aus Schottland stammenden Musiker, der auch den Dudelsack beherrscht. Oder wenn das Orchester auf Tournee im Heimatland eines Orchestermitglieds auftritt und dadurch besonders enge, geradezu gewünschte Identifikationsmöglichkeiten für das örtliche Publikum entstehen.
Ist es vor diesen Hintergründen sinnvoll, angemessen oder gar zielführend, Künstlerinnen und Künstler unter Druck zu setzen, mit Fristsetzung eine bestimmte politische Positionierung von ihnen einzufordern und sie bei Nichterfüllung hinauszuwerfen oder nicht zu engagieren? Nein, ist es nicht. Nicht sinnvoll, nicht angemessen und schon gar nicht zielführend. Auch nicht im Zusammenhang mit dem aktuellen Krieg gegen die Ukraine, der rhetorisch von Bundeskanzler Olaf Scholz als »Putins Krieg« gebrandmarkt wird. Auch Presse und Medien sprechen bei Gergijew und Netrebko von »Putins Künstlern«. Wenn man also schon nicht wirksam gegen Putin vorgehen kann, dann wenigstens gegen »seine« Künstler. »Jetzt haben wir es ihnen aber gezeigt«, mögen Verantwortliche anschließend denken und damit nach außen Tatkraft und Entschlossenheit symbolisieren. Wie kurzsichtig. Denn das eigentliche Ziel – »Putin« – wird verfehlt, nicht erreicht, vielleicht sogar eine gegenteilige Wirkung erzeugt.
Man sollte annehmen, dass insbesondere prominente Spitzenkünstlerinnen und -künstler – gerade in der klassischen Musik – von den Verantwortlichen ausschließlich aufgrund ihrer herausragenden künstlerischen Qualifikation und ihrer Aura engagiert werden; nicht wegen ihrer Herkunft oder gar ihrer politischen oder religiösen Anschauungen. Wenn es künstlerisch dann irgendwann nicht mehr »passt«, trennt man sich wieder. Das ist normal. Schwierig bzw. geradezu scheinheilig ist es aber, z. B. Waleri Gergijew wegen besonderer Nähe zu und Sympathie für Wladimir Putin jetzt mit großem Tamtam hinauszuwerfen, obwohl diese Umstände schon vor seiner Verpflichtung als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker bekannt waren und 2018 im Münchner Stadtrat auch öffentlich kritisiert wurden. Nur nicht von einer Mehrheit. Dieser Protest wurde seinerzeit geflissentlich ignoriert. Vier Jahre später statuiert man hier nun ein – vermeintliches – Exempel.
Der frühere Kulturstaatsminister und stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrates Julian Nida-Rümelin hat sich richtigerweise dagegen ausgesprochen, wegen des Angriffs auf die Ukraine russischen Künstler ihre Engagements zu entziehen; es dürfe in Deutschland keine »Gesinnungsprüfungen« von Künstlern und Wissenschaftlern geben. Künstlerinnen und Künstler haben wie alle Menschen das Recht zur freien Meinungsäußerung, jedenfalls in demokratisch regierten Staaten. Dies umfasst auch das Recht zu schweigen.