Im Oktober 2014, in jenen Tagen, als die Terrormiliz »Islamischer Staat« mit schweren Waffen, die man zuvor bei der Eroberung von Mossul erbeutet hatte, die syrisch-kurdische Stadt Kobane angriff und die Verteidiger bis auf wenige Straßenzüge zurückgedrängt hatte, schrieb Stéphane Charbonnier einen denkwürdigen Gastbeitrag in der Tageszeitung L’Humanité.

»Ich bin kein Kurde, ich kann kein Wort Kurdisch, ich könnte keinen kurdischen Autor nennen, kurdische Kultur ist mir völlig fremd. Heute bin ich Kurde. Ich denke kurdisch, ich spreche kurdisch, ich singe kurdisch, ich weine kurdisch. Die belagerten Kurden in Syrien sind keine Kurden, sie sind die Menschheit, die sich der Dunkelheit widersetzt. Sie verteidigen ihr Leben, ihre Familie, ihr Land, aber ob sie wollen oder nicht, sie stellen das einzige Bollwerk gegen den Vormarsch des ›Islamischen Staates‹ dar. Sie verteidigen, nicht gegen einen fantasierten Islam, den die Terroristen der ISIS nicht vertreten, sondern gegen das barbarischste Gangstertum«.

Stéphane Charbonnier, bekannt unter seinem Künstlernamen Charb, war Chefredakteur der Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Vier Monate danach wurde er mit neun Kollegen und weiteren Menschen von eben diesem »barbarischsten Gangstertum« ermordet. Bevor der Aufschrei »Je suis Charlie« durch die Welt ging, hatte er zu einer wortgleichen Solidaritätsadresse gegriffen: »Aujourd’hui, je suis kurde«.

Bei allem, was die Massenmörder des »Islamischen Staates« vom Kriegsverbrecher Wladimir Putin unterscheidet, sage ich heute mit Charbonnier: »Heute bin ich Ukrainer. Ich denke ukrainisch, ich spreche ukrainisch, ich singe ukrainisch, ich weine ukrainisch.«

Und vermutlich geht es nicht nur mir so. Denn wieder blicken die Welt und vor allem Europa auf einen Krieg im Osten. Mit Schaudern vor den Aggressoren, mit Sympathie für die Bedrängten, aber mit Zögern und Zaudern beim praktischen Beistand.

Die Waffenlieferungen, die nicht nur Präsident Wolodymyr Selenskyj, sondern, soweit ich das überblicken kann, alle ukrainischen Intellektuellen und Künstler seit Monaten erbeten haben, kamen viel zu spät; die flehentliche Forderung nach einer Flugverbotszone wird beiseitegewischt, ohne sie auch nur ernsthaft anzuhören.

Auch in einer anderen Hinsicht stoßen die Stimmen aus der Ukraine kaum auf Gehör: »Nicht Sie helfen uns, der Ukraine«, formuliert es etwa die Schriftstellerin Oksana Sabuschko. »Indem sich die Ukraine gegen die russischen Besatzer verteidigt, hilft die gerade der freien Welt.« So wie die Kurden, verteidigen heute die Ukrainer nicht allein ihr Land.

Für den Westen und speziell für Europa steht viel mehr auf dem Spiel – Sicherheit, Frieden und Glaubwürdigkeit. Und um die steht es schlechter, als man in Kerneuropa vielleicht glaubt. Nicht ohne Grund: Srebrenica und Ruanda, Abu Ghraib und Guantanamo, Julian Assange und Alan Kurdi … Chiffren, die auf je ihre Weise für die Frage stehen, was die berühmten »westlichen Werte« tatsächlich wert sind, wenn es ernst wird.

Die Idee einer liberalen und gerechten Demokratie hat in weiten Teilen Osteuropas, im Nahen und im Fernen Osten und anderswo vieles von der Ausstrahlungskraft eingebüßt, die sie nach der Zeitenwende von 1989 hatte. Zugleich sind in allen westeuropäischen Staaten Kräfte erstarkt, die bis vor Kurzem noch offen für Putin schwärmten, weil dieser die offene Gesellschaft genauso verachtet wie sie selber. Eurokrise, Flüchtlingskrise, Brexit – das vergangene Jahrzehnt war kein gutes für Europa. Allein ein Land am Rande des Kontinents schien aus der Zeit zu fallen: die Ukraine. In der Maidan-Revolution ging es meisten darum, ihr Land in Richtung Europa auszurichten, über hundert weitere Menschen bezahlten dafür mit ihrem Leben. Bei allen anhaltenden Defiziten, Unzulänglichkeiten und Rückschritten hat die Ukraine diese Orientierung nicht verlassen – und wurde genau darum vom Putin-Regime überfallen.

Dieses Land an der Peripherie des Kontinents gehört zum Kern jener Region im Osten des Kontinents, das der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder vor zehn Jahre als »Bloodlands«, zu Deutsch »Blutländer«, bezeichnete, den größten Schauplatz monströser Verbrechen des Nationalsozialismus und des Stalinismus.

Noch mal zehn Jahre vor ihm legte Dan Diner seine »universalhistorische Deutung« des 20. Jahrhunderts vor: Sein fiktiver Betrachter saß auf der Potemkinschen Treppe in Odessa blickte von dort auf die prägenden Konflikte des 19. Jahrhunderts, die er in der östlichen Peripherie des Kontinents verortete und in denen er wiederum den Schlüssel für die Konflikte des 20. Jahrhunderts sah.

Das »Buch der Stunde« aber, wie kürzlich die Frankfurter Rundschau schrieb, stammt von einem anderen Historiker, Karl Schlögel, – nur hat er nicht jetzt, sondern bereits 2015 geschrieben; die »sogenannte Ukraine-Krise« sei für ihn die »Stunde der Wahrheit«, eine »Stunde der Prüfung und Selbstprüfung«. Eben auch für Europa.

Kein anderes Land musste jemals einen höheren Preis bezahlen, um Teil eines demokratischen, liberalen Europas werden zu können. Wenn sich das Wort von den »europäischen Werten« nicht auf sehr lange Zeit diskreditieren soll, darf Europa die Ukraine nicht fallen lassen. Übrigens: Kobane wäre nicht verteidigt, der IS in Syrien und im Irak nicht besiegt worden, ohne den heldenhaften und verlustreichen Kampf der Kurdinnen und Kurden. Aber ohne die US-Luftwaffe auch nicht. Und den Amerikanern ist nicht ihr Eingreifen in letzter Minute vorzuwerfen, sondern der Verrat, den sie begannen, kaum dass der IS niedergerungen worden war.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2022.