Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) erklärte als eine der ersten deutschen Kulturinstitutionen, die Zusammenarbeit mit staatlichen russischen Museen vorerst zu unterbrechen. Der Präsident Hermann Parzinger sprach unter anderen von einem »kulturellen Scherbenhaufen«. Im Gespräch mit Hans Jessen erläutert er, worin dieser genau besteht und mehr.

Hans Jessen: Herr Parzinger, haben Sie als Archäologe, als Altertumswissenschaftler, eine besondere Empfindung, wenn jetzt kulturelle Orte wie das Shoah-Denkmal Babyn Jar in Kiew oder die historische Bausubstanz ganzer Innenstädte durch Bomben und Raketen zerstört werden?

Hermann Parzinger: Die Zerstörung von Kulturdenkmälern trifft uns alle ins Herz. Wir müssen sehr genau hinsehen, was da jetzt passiert. Das Leid der Menschen ist natürlich das Allerschlimmste. Aber auch die Kulturgüter sind wichtig. Sie sind materialisierte Geschichte und prägen das kollektive Gedächtnis und die kulturelle Identität der Menschen in der Ukraine. Insofern ist es eine entscheidende Frage, ob das Kollateralschäden eines rücksichtslosen militärischen Vorgehens sind, oder ob Kulturdenkmäler auch gezielt zerstört werden, um die kulturelle Identität der Ukraine zu zerstören, die vom russischen Präsidenten, zusammen mit der Staatlichkeit, bewusst infrage gestellt worden ist. Fairerweise muss man sagen, dass diese Frage jetzt noch nicht genau zu beantworten ist. Im Augenblick sieht es eher danach aus, dass man ohne Rücksicht auf Verluste bombt und Raketen abfeuert – aber das werden wir noch sehr genau beobachten müssen.

Sie haben sehr schnell nach Beginn des Angriffs erklärt, die SPK werde ihre »Projekte und Planungen mit Russland zunächst einmal auf Eis legen«. War das eine spontane Reaktion oder abgesprochen – wenn ja, mit wem?

Das entspricht der Haltung der Bundesregierung und war auch mit der BKM abgesprochen. Hier wurde ein freies, demokratisches, unabhängiges Land angegriffen. Das ist seit 1945 in dieser Form nicht mehr geschehen. Man kann dann nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Dort, wo Kontakte bestehen zu staatlichen Stellen, müssen die jetzt auf Eis gelegt werden. Wir haben aber nie gesagt, dass wir Kontakte »abbrechen«, nur dass wir sie auf Eis legen, wie fast alle Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen, das halte ich für wichtig und richtig. Wir zeigen dadurch Solidarität mit den Menschen in der Ukraine und setzen ein Zeichen gegen diesen verbrecherischen Angriffskrieg, aber das bedeutet nicht, dass wir alle Brücken nach Russland abbrechen. Ich sehe dabei zwei Ebenen: Einerseits die zwischen staatlichen Institutionen, da gibt es erst mal ein Stopp, und andererseits die persönliche Ebene. Meine Kollegen und ich telefonieren immer wieder, schreiben E-Mails, nicht nur in die Ukraine, sondern auch nach Russland, um dort nicht das Gefühl zu vermitteln, wir würden mit den Menschen in Russland nichts mehr zu tun haben wollen. Wir wissen sehr wohl, dass in Russland Tausende verhaftet werden, weil sie sich demokratisch äußern und den Ukrainern indirekt beistehen wollen. Sie verurteilen diesen Krieg ebenso wie wir. Innerhalb einer Woche haben über 8.000 russische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler namentlich einen Protestbrief gegen den Krieg unterzeichnet. Da zeichnet sich schon eine gewisse Spaltung in der russischen Gesellschaft ab. Es gibt viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die überlegen, das Land zu verlassen. Auch für die müssen wir da sein.

Wie reagieren die russischen Partner auf Ihrer Gesprächsebene – also Museumdirektoren und Kulturverwaltung – auf das Einfrieren? Gibt es Gegenreaktionen?

Nein, Gegenreaktionen gibt es nicht. Man hat Verständnis. Ich bin unter anderem Mitglied im »International Advisory Board« der Eremitage in St. Petersburg. Da sind die großen Museen vom Metropolitan Museum of Art über den Louvre bis zu den Vatikanischen Museen vertreten. Ein weltweiter Kreis hochkarätiger Museumsleute. Auch die Tätigkeit dieses Boards ist jetzt erst einmal ausgesetzt. In der Leitung der Eremitage hat man dafür Verständnis gezeigt, auch wenn man das natürlich bedauert. Wir sind uns alle darin einig, die freundschaftlichen persönlichen Verbindungen aufrechterhalten zu wollen. Wir wissen nicht, wie die Zukunft aussieht – aber wenn man wieder daran anknüpfen kann, werden Kunst und Kultur die ersten Bereiche sein, wo wir wieder Brücken bauen werden.

Welches sind die »zunächst auf Eis gelegten« Russland-Projekte der SPK?

Wir arbeiten seit einigen Jahren gemeinsam mit dem Staatlichen Historischen Museum in Moskau an einer großen Ausstellung zur griechischen Vasenmalerei. Da geht es um Bestände, die 1945 von Berlin nach Moskau verbracht worden waren – ein Teil ist aber auch hier in der Antikensammlung. Diese getrennten Teile in einer gemeinsamen Ausstellung zusammenzuführen, daran arbeiten die Kolleginnen und Kollegen seit Jahren. Es wäre jetzt so weit gewesen, einen Vertrag mit dem Kulturministerium zu unterschreiben – das wird man jetzt nicht machen können, wenngleich die wissenschaftliche Arbeit daran hier und in Moskau sicher weitergeht.

Ein zweites Projekt: Seit vielen Jahren arbeiten wir mit dem Puschkin-Museum in Moskau an der Aufarbeitung der Sammlungsbestände des Florentiner Bildhauers Donatello, die ursprünglich in Berlin waren. Auch davon ist ein Teil 1945 nach Moskau gekommen, ein anderer Teil befindet sich hier. Die Bestände in Moskau haben Brandspuren und Beschädigungen – es geht darum, gemeinsam zu entscheiden, was wie restauriert wird. Eine wunderbare Kooperation schon seit einigen Jahren mit dem Ziel, eine große Donatello-Ausstellung in Moskau zu realisieren.

Es wäre nun eigentlich ein nächster, logischer Schritt gewesen, die lange, vertrauensvolle und auch freundschaftliche Zusammenarbeit in eine Ausstellung russischer »Beutekunst« in Berlin münden zu lassen – die Schliemann-Sammlung etwa, für einige Woche vielleicht einmal, trotz der unterschiedlichen Rechtpositionen beider Länder. Dieser Krieg hat solche Träume erst einmal beendet.

Was bedeutet die aktuelle Situation für den »Deutsch-Russischen Museumsdialog«, dessen Sprecher Sie sind? 2004 gegründet, arbeiten 80 deutsche Museen und eine Vielzahl russischer Einrichtungen an gemeinsamen Austellungs­projekten, mit einem besonderen Fokus auf Kulturgüter, die sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Russland befinden. Ist dieser Dialog jetzt auch eingefroren?

Soweit ich von den anderen Museen und Einrichtungen des Deutsch-Russischen Museumsdialogs weiß, haben sie wie wir ebenfalls ihre Aktivitäten vorläufig eingestellt. Aber gleichzeitig bemüht man sich überall, die persönlichen Kontakte mit den Kolleginnen und Kollegen in Russland irgendwie aufrechtzuerhalten. Auch die Arbeit geht natürlich weiter. Wir machen ja nicht nur Ausstellungen, sondern erforschen und publizieren unsere Ergebnisse zu russischen und deutschen Kulturgutverlusten. So bereiten wir noch den einen oder anderen Band einer von der Kulturstiftung der Länder und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz gemeinsam herausgegebenen Reihe »Studien zu kriegsbedingt verlagerten Kulturgütern« zur Publikation vor. Das läuft weiter. Überhaupt ist der Dialog ein schönes Beispiel dafür, wie man auch ein für beide Seiten so schmerzliches Kapitel wie Kulturgutverluste zu etwas Verbindendem machen kann. Heute klingt es etwas utopisch, aber warum sollten wir nicht einen gemeinsamen Dialog zwischen deutschen, russischen und ukrainischen Museen auf den Weg bringen können. Vieles ist vorstellbar und den Museen wird es an Ideen nicht mangeln, doch erst muss dieser mörderische Krieg beendet werden.

Was können SPK-Institutionen, tun, um ukrainischer Kultur und Geschichte, deren eigenständige Existenz von Putin bestritten wird, sichtbar zu machen?

Zunächst ist wichtig, dass man über diesen Kulturraum und seine Geschichte aufklärt und mehr Wissen vermittelt. Unsere kunst- und kulturgeschichtlichen Sammlungen haben das Potenzial dazu. Wir planen Ausstellungen: Das Museum Europäischer Kulturen z. B. hat gleich reagiert und zeigt Objekte aus der Ukraine. Wir wollen aber weitergehen und diesen Kulturraum in seiner kulturgeschichtlichen Entwicklung den Menschen hier erklären. Vielen ist dieser Bereich doch ziemlich fremd – man war zwar vielleicht einmal in Moskau oder St. Petersburg, aber die Komplexität zwischen Ukraine, Weißrussland, westlichem Russland – dass Weißrussisch und Ukrainisch eigene Sprachen sind, die dort auch von den meisten gesprochen werden, selbst wenn für sie alle Russisch eine Art zweite Muttersprache ist – diese Komplexität muss man erklären.

Es ist eine zentrale Aufgabe von Archäologen, Historikern, Kunsthistorikern, dem Missbrauch historischer Quellen durch die Politik entgegenzuwirken. Putin behauptet, die Kiewer Rus des 10. und 11. Jahrhunderts sei der Ursprung des russischen Staates. Natürlich hat der russische Staat dort Wurzeln, aber ebenso der ukrainische. Geschichte ist komplex. Wir müssen gegen Vereinnahmungen, Vereinfachungen und deren politischen Missbrauch vorgehen. Das kann man durch Ausstellungen machen, wir überlegen auch, eine Ringvorlesung zu organisieren und dabei die verschiedenen Aspekte dieses Kulturraumes zu betrachten, um ihn als Ganzes zu verstehen.

Gibt es neben der inhaltlichen Thematisierung konkrete Unterstützung für ukrainische oder auch russische Künstler und Wissenschaftler, von denen, Sie haben es angesprochen, auch Tausende gegen den Krieg protestieren?

Die Kolleginnen und Kollegen in unseren Staatlichen Museen und in der Staatsbibliothek haben aufgrund ihrer Bestände ja enge Kontakte. Viele Stiftungen – die Ernst von Siemens Kunststiftung, die Alexander von Humboldt-Stiftung, die Gerda Henkel Stiftung und andere – haben heute alle Programme, um Künstlerinnen, Kuratoren, Wissenschaftlerinnen aus der Ukraine und auch aus Russland und Belarus, die ihr Land verlassen wollen, aufzunehmen und zu unterstützen.

Für sie alle sind wir offen. Ich versuche gerade, eine ehemalige Humboldt-Stipendiatin von mir, die noch in Kiew ist, hierherzuholen. Wir versuchen, unsere Kolleginnen zu integrieren, damit sie hier weiter arbeiten können und nicht in ein Loch fallen.Daneben geht es auch um ganz praktische Unterstützung vor Ort: z. B. um Verpackungsmaterial. Die Museen in der Ukraine versuchen, ihre Dinge in Sicherheit zu bringen. Das kann im Grunde nur bedeuten, Objekte in die Keller zu schaffen – lange Transporte über Land sind viel zu gefährlich, deswegen bittet man uns um Verpackungsmaterial, um Kisten, die sich gut stapeln lassen. Das klingt erst mal banal, ist aber wichtig, um Kulturgüter schnell in Sicherheit bringen zu können. Eine weitere theoretische Möglichkeit wäre, falls der ukrainische Staat darum bittet, Kunstwerke zeitweilig zu evakuieren und außer Landes aufzubewahren. Auch dazu wären wir grundsätzlich bereit, aber das ist natürlich ungleich schwieriger, juristisch wie logistisch. An diesem Punkt sind wir noch nicht.

Schließlich geht es auch um Speicherkapazität: Vieles wird digital aufbewahrt, und man bittet uns bereits, Daten in Speichersysteme zu überführen und dort zu sichern.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2022.