»Judesein gehört für mich zu den unbezweifelbaren Gegebenheiten meines Lebens und ich habe an solchen Faktizitäten niemals etwas ändern wollen. Eine solche Gesinnung grundsätzlicher Dankbarkeit für das, was ist, wie es ist, gegeben und nicht gemacht, physei und nicht nomoi ist präpolitisch …«
Hannah Arendt
Ich spreche hier von Israel aus nach Deutschland. Mein Vortrag geht aus diesen Bruchlinien hervor. Es sind auch die Bruchlinien des Bürgers eines Staates, der die Moderne aus einer anderen Perspektive betrachtet als diejenigen, die hier in Deutschland leben. Dieses Denken zeigt die Bruchlinien zwischen Israel und Deutschland, aber auch die Bruchlinien zwischen dem Jüdischen und Nichtjüdischen. Mein Blick ist ein jüdischer Blick aus Israel. Israel hat sich nie als universales Projekt verstanden. Israel ist die partikulare jüdische Lösung für ein partikulares jüdisches Problem. Diese Spannung der Moderne, die Spannung zwischen dem Allgemeinen und dem Spezifischen, macht sich an der Gegenwart der Juden fest. Antisemitismus, ob ein Gefühl, ein Ressentiment, eine Haltung, ein Gerücht oder gar nur ein Stereotyp oder Vorurteil über eine bestimmte soziale und kulturelle Gruppe, die Juden genannt wird, ist Teil der globalen Moderne. Antisemitismus ist keine Unstimmigkeit der Moderne, die durch Aufklärung behoben werden kann. Antisemitismus ist Teil der Aufklärung. Und ich will des Weiteren erörtern, warum das so ist. Wer sind diese Juden und Jüdinnen, denen so vieles übel genommen wird? Sind es konkrete Menschen, die als Juden oder Jüdinnen geboren wurden? Oder sind Juden und Jüdinnen Metaphern und stehen für etwas anderes?
Ich möchte das durch ein Bild erläutern. »Die unbekannte Welt nebenan.« So titelt der Spiegel im April 2019 sein Sonderheft über jüdisches Leben in Deutschland. Zwei Herren im besten Alter, in ein Gespräch vertieft, schauen sich an und reden, die Welt um sie herum scheint sie nicht zu interessieren. Eine gewöhnliche Alltagsszene? Ganz im Gegenteil. Die beiden sind nicht Teil der Welt. Sie scheinen die Wirklichkeit zu ignorieren und sind ganz auf sich selbst bezogen. Sie tragen abgewetzte Kleidung und Schuhe, Äußerlichkeiten interessieren sie offenbar nicht. Im Hintergrund ist der Hauseingang vermutlich einer Berliner Straße zu erkennen, darüber geblendet ein großer Davidstern. Das Foto macht sie sichtbar. Darum geht es. Die beiden sind unverkennbar Juden, sogenannte »Ostjuden«, Juden also, die aus Osteuropa nach Deutschland eingewandert sind, um dort zu bleiben, was dann auch ein Problem für andere, weniger sichtbare Juden wird. Denn diese Juden waren in der Tat erkennbar anders. Mit dem Begriff »Ostjude« im Gegensatz zu den unsichtbaren »Westjuden«, die geglaubt hatten, in eine neue Welt aufgebrochen zu sein, verbindet sich Sichtbarkeit, Tradition, Rückschritt, Partikularismus. Das mag auch der Blick des Fotografen gewesen sein. Sie sind deutlich anders als diejenigen Juden und Jüdinnen, die Teil werden wollen, die bekannt werden wollen. Damals wie heute müssen sie sich von Nichtjuden und Juden anhören, dass sie in Sprache, Kleidung sowie Riten und Gebräuchen partikular bleiben wollen, dass sie rückständig sind, anders als vielleicht der weise Nathan oder sein bekanntes Vorbild Moses Mendelssohn. Sie sind in einem Stammesdenken gefangen, aus dem man sich eigentlich befreien sollte. Und nach Maßstäben der aufgeklärten Moderne sind sie tatsächlich rückständig. In den Augen derer, die sie als Fremde sehen, sind sie keine Europäer, sondern orientalische Fremdlinge, Semiten, die man nicht nur ablehnen kann, sondern zurückweisen muss. Ihre Sichtbarkeit macht sie verletzlich. Ihre offen praktizierte Religiosität, ihre traditionelle Kleidung, ihre Wohnverhältnisse verweisen auf weitere Unterscheidungen des Fort- und Rückschrittlichen. Die Sichtbarkeit dieser Merkmale löst bei anderen, unsichtbaren Juden, den Nachfolgern des weisen Moses Mendelssohn, der selbst noch ein sichtbarer Jude war, fast Panik aus. Diese glauben, im öffentlichen Raum ihren Partikularismus beherrschen und kontrollieren zu können. Diese Juden und Jüdinnen sind stolz auf ihre Assimilation, sie fühlen sich angekommen, sprechen ein klares Deutsch, führen Geschäfte, gehen auf Universitäten, schreiben Bücher und Zeitungsartikel, haben Liebschaften mit nichtjüdischen Menschen, feiern Weihnachten und fallen für das deutsche Vaterland. Manche konvertieren zum Christentum, um auch religiös universell zu sein. Sie glauben fest an ihre Unsichtbarkeit als Juden und Jüdinnen. Sie können sich auf der Straße bewegen, ohne als Juden oder Jüdinnen erkannt zu werden. Sie wollen mit den Juden auf dem Bild möglichst wenig zu tun haben, denn sie verstehen sich als fortschrittlich und aufgeklärt. Diese Unsichtbarkeit aber erweist sich als Illusion, die auf dem Irrglauben beruht, unsichtbare Juden seien sicher vor den Angriffen der Nichtjuden. Sie glauben, dass man, geschützt von einer Tarnkappe, weniger angreifbar sei.
Viele der Reaktionen auf das Foto sind typisch für den Anti-Antisemitismus, vor allen die entrüstete Zurückweisung vieler Juden und Jüdinnen selbst. Juden sähen nicht so aus, heißt das mehr als verständliche Argument. Aber es ist auch ein Punkt, bei dem es sich lohnt, etwas zu verweilen. Juden und Jüdinnen sollen so aussehen, wie alle anderen Menschen. Und es stellt sich damit die Frage, warum es so viel Entrüstung von jüdischer Seite über dieses Foto gab. Warum sind sichtbar erkennbare Juden Klischeevorstellungen? Heißt das, dass »unsichtbare« Juden demnach das Gegenteil von Klischee oder Vorurteil bedienen, also »wahre« und »authentische« Juden sind? Diese Frage geht ins Herz der Aufklärung und der Rolle, die die Juden darin spielten. Natürlich verstehe ich die Versuchung, universell, europäisch, progressiv, inkludierend zu denken und zu fühlen. Sie ist auch mir nicht fremd. Sie ist aber auch eine Verlockung, die in ihrem eigenen Fortschrittsgedanken gefangen bleibt.
Und trotzdem: In dieser Falle der Aufklärung, der Gleichheit, verlangt man von Juden die Unsichtbarkeit. Sie sollen sein wie alle anderen Menschen auch. Das ist sehr deutlich, wenn es um unser jüdisches Aussehen geht. Wir sollen keine Käppchen tragen. Wir sollen die Schläfenlocken und den Bart rasieren. Wir sollen so reden wie die Gojim, aussehen wie die Gojim, uns bewegen wie die Gojim. Das heißt, unsichtbar werden als Juden, mit der Hoffnung, dass damit auch der Antisemitismus unsichtbar wird. Aber das ist ja nicht geschehen. Der Antisemitismus ist nicht unsichtbar geworden, aber die Juden. Und deswegen, glaube ich, muss man als ein Gegengift wieder als Jude sichtbar werden. Wie Arendt sagte, »wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich als Jude wehren«. Darum geht es. Wir müssen da etwas tun und mit dem Finger draufzeigen und sagen: Schaut euch das alle an! Man kann Antisemitismus als Einstellung nicht einfach verbieten. Da helfen auch keine Resolutionen. Dass man anders ist, aber gleich ist, dass man sichtbar ist und unsichtbar ist, ist bedrohend. Und damit muss man leben, glaube ich. Es ist Würde und Bürde zugleich. Man kann als Jude nicht in irgendeiner illusorischen Welt leben, in der es keinen Antisemitismus mehr gibt.
Ich glaube, dass Juden in Deutschland und nicht nur dort eine ganz klare jüdische Position entwickeln müssen, die autonom ist. Autonom vom politischen Diskurs um sie herum und auch autonom von den pro-palästinensischen Demonstrationen, autonom von progressiven Kreisen, aber auch autonom von rechten Nationalisten. Als man Juden vorwarf, eine Nation innerhalb einer Nation zu sein, waren sie nicht imstande, sich diesem Dilemma zu entziehen. Je mehr sich Juden assimilierten, desto »weniger« waren sie Juden. Aber wenn man sich weiterhin als Jude fühlt und das trotz assimilierter Lebensweise, dann ist es ein Zeichen dafür, dass man doch nicht völlig assimiliert ist. So verhält es sich dann auch mit dem Staat Israel. In Israel ist das Judentum nicht mehr eine »raumlose« Religion, sondern ein Volk mit einem Land und Raum, das politisch handeln muss. Juden in Israel besitzen politische Freiheit, die das Diasporajudentum für sich nicht beanspruchen kann, das daher oft auf internationale Schutzmaßnahmen setzte. Das ist widersprüchlich, denn gleichzeitig kann Israel nicht aufhören, ein Staat der Juden zu sein. Das Rückkehrrecht erlaubt jedem Juden auf der Welt zu wählen, ob er oder sie zu dem israelischen politischen Kollektiv gehören will. Das heißt dann auch, dass der souveräne Staat Israel seinen ethnischen Charakter nicht aufgeben kann und sollte, der doch die Grundlage des Landes ist. Ich verstehe diese Widersprüche hier sehr gut, denn es sind die meinen. Aber die israelische Wunde ist eine andere Bürde und auch eine andere Würde.