Samstagnachmittag, Ende Oktober. Ich öffne das Fenster im Kinderzimmer, um es zu lüften. Das Geschrei von der Straße überrascht mich, obwohl es nicht das erste Mal ist, dass ich es in meiner Straße höre: »Free, free Palestine!« Ich stehe am offenen Fenster, meinen Jüngsten auf dem Arm, und versuche, die zweite Zeile, die sich auf die erste reimt, zu verstehen, aber die Worte dringen nur gedämpft in das Hinterhaus. Ein paar Leute verlassen die Demonstration und betreten unseren Hinterhof (ich muss die Hausverwaltung daran erinnern, das elektrische Tor zu reparieren) und knien zu meiner Überraschung auf dem kalten, kahlen Pflaster des Parkplatzes und beginnen zu beten. Sie sind harmlos, aber ihr Anblick ist beunruhigend. Als sie fertig sind, nehmen sie den Marsch der Demonstranten wieder auf. Ich beschließe, allein hinunterzugehen, um mir die Demonstration aus der Nähe anzusehen.
Beim Durchschreiten des defekten Tores komme ich an einem Nachbarn vorbei, der gerade hereinkommt. Wir tauschen Blicke aus, wie zwei Menschen, die einen schmutzigen Aufzug betreten und verlassen, den keiner von ihnen verschmutzt hat. Auf der Straße marschieren ein paar hundert Demonstranten, etwa tausend, schwer eskortiert von der Polizei. Jetzt höre ich die zweite Zeile: »Free, free Palestine – Zionism is a crime!« Einige halten Schilder, auf denen der Krieg in Gaza mit der systematischen Vernichtung der europäischen Juden während des Holocausts gleichgesetzt wird. Eine weitere Parole schallt aus den Lautsprechern: »There is only one solution: Intifada Revolution!« Ich schaue mich um, um die Frau zu sehen, die in das Mikrofon schreit, aber sie ist nirgends zu sehen. Es ist ein Playback.
Ich habe noch einige offene Fragen: Gibt es eine Verbindung zwischen einer pro-palästinensischen Kundgebung und dem Beten; wenn ja, welcher Art ist sie? Ist Zionismus ein Verbrechen, inwiefern? Warum erleben wir weltweit so viele pro-palästinensische Demonstrationen, aber keine einzige Anti-Hamas-Demonstration von Palästinensern und ihren Anhängern, die sich von den Gräueltaten der Hamas distanzieren wollen, während in Israel kein Tag vergeht, an dem nicht gegen die Regierung demonstriert wird?
Ich unterhalte mich mit einem Bekannten, einem Palästinenser aus der Generation meiner Eltern, der seit den 1970er Jahren in Berlin lebt. Ein freundlicher, intelligenter pro-palästinensischer Aktivist, der sich für eine gewaltfreie Ein-Staaten-Lösung einsetzt. »Das Beten ist nebensächlich«, erklärt er. Als Moslem betet auch er fünfmal am Tag. Nur würde er es nicht auf der Straße tun, sondern es lieber verschieben, bis er zu Hause sei. »Der Zionismus ist ein Verbrechen«, sagt er weiter. »Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land«, zitiert er – ein Satz, der mit dem Zionismus assoziiert wird, obwohl er nicht von ihm geprägt wurde. »Die Zionisten hatten nie die Absicht, die einheimischen Palästinenser als gleichwertig zu betrachten oder sie gar als Volk anzuerkennen.« Was meine dritte Frage betrifft – wo marschieren die Palästinenser gegen die Hamas – so kann er sie selbst nicht ganz klären.
»Das ist eine sehr gute Frage«, sagt ein israelischer Professor, den ich manchmal mit meinen Fragen belästige. Der orthodoxe Jude wendet sich für Antworten an seinen Rabbi; meine »höhere Autorität« sind Geschichtsprofessoren – »Propheten der Vergangenheit«. »Aber wir ignorieren den Elefanten im Raum«, fährt der Professor fort, ein Sohn von Holocaust-Überlebenden, der in Israel oft als Antizionist kritisiert wird, obwohl er sich selbst als Nicht-Zionist sieht: Ersterer ist der Meinung, dass es den Zionismus nie hätte geben dürfen; Letzterer glaubt, dass es nach 1945 eine historische Notwendigkeit für einen jüdischen Staat gab, kann aber den Weg, den der Zionismus seitdem genommen hat, nicht mehr unterstützen. »Die Besatzung« nennt er den Elefanten. »Die Palästinenser sehen die Aufteilung zwischen Besatzern und Besetzten und übersehen damit ihr Recht, die Kräfte zu kritisieren, die in ihrem Namen gegen Israel kämpfen. Und sie irren sich meiner Meinung nach. Man würde erwarten, dass die Palästinenser, nachdem sie etwa 40.000 Menschen verloren haben, sich gegen ihre Regierung auflehnen. Aber es ist einfacher, dies hier in Tel Aviv zu sagen, während man mit einer Tasse Kaffee in der Hand über Zoom plaudert.« Während wir am Kaffee nippen, er in Tel Aviv und ich in Berlin, kommt das Gespräch ganz natürlich auf den Antisemitismus: »Was war das Argument, wenn sich ein Jude über den Antisemitismus im Exil beklagte? Komm hierher, nach Israel. Eines der grundlegenden Versprechen des Zionismus war, dass Juden hier sicher sind«, sagt er und fährt dann mit einem leicht sarkastischen Ton fort: »Ich möchte dir also mitteilen, dass nach dem letzten Jahr, aber schon lange vorher, der Ort, an dem ein Jude am wenigsten sicher ist, der Staat Israel ist. Übrigens nicht nur als Individuum, sondern möglicherweise auch als Kollektiv. Denn wenn sich daraus ein regionaler Krieg entwickelt, dann wird von Teheran keine Spur mehr übrig sein – aber auch keine Spur mehr von Tel Aviv«, er schließt wie ein Prophet des Zorns.
Während ich mich bemühe, diesen kleinen Artikel abzuschließen, ereignen sich zwei Ereignisse – ein lokales und ein globales –, die ich nicht unerwähnt lassen kann: Benjamin Netanjahu entließ Verteidigungsminister Yoaw Galant mitten im Krieg und ersetzte ihn durch einen Marionettenminister in seinem Namen, wodurch Netanjahu zum amtierenden Verteidigungsminister wurde; und Donald Trump wurde zum 47. Präsidenten der Vereinigten Staaten ernannt – Making America Great Again, again. Die Kombination dieser beiden Ereignisse, dieser beiden Männer, könnte sehr wohl zu einem anhaltenden Krieg im Nahen Osten führen. Zumindest so lange, bis es den Israelis gelingt, Netanjahu, wenn nicht auf die Anklagebank, so doch zumindest in die letzte Reihe der Opposition zu schicken. Was die Palästinenser betrifft … Ich kann nur hoffen, dass diejenigen von ihnen, die es noch nicht getan haben, einen Weg finden, sich von den verdrehten Paradigmen der Hamas und der Hisbollah zu befreien. Andernfalls befürchte ich, dass der gewalttätige Angriff, den wir kürzlich in Amsterdam erlebt haben, nur der Anfang sein wird. Bis dahin werde ich das Fenster offenlassen, aber ich werde dafür sorgen, dass die Hausverwaltung das elektrische Tor repariert.