Vor zehn Jahren, im Mai 2014, stürmte ein Mitglied der Terrororganisation Islamischer Staat mit einem Maschinengewehr in das Jüdische Museum Brüssel und erschoss unsere Museumskollegen Alexandre Strens und Dominique Sabrier sowie Miriam und Emmanuel Riva, die aus Israel nach Brüssel gereist waren und just an diesem Tag das Museum besuchen wollten. Die Ermordung von vier Menschen hinterließ nicht nur einen tiefen Schmerz bei den Angehörigen und ein Trauma bei unseren Kolleginnen und Kollegen in Brüssel. Sie hat auch das Feld der Jüdischen Museen in Europa nachhaltig verändert. Obwohl die meisten der europaweit mehr als 50 Jüdischen Museen sich in staatlicher Trägerschaft befinden, wissen wir seither, dass wir in der Wahrnehmung von Dschihadisten, Rechtsextremisten und gewaltbereiten Antisemiten vor allem eines sind: Organisationen, in denen sie ihren Hass gegen Jüdinnen und Juden ausleben können. Das Jüdische Museum Frankfurt war bis zum Anschlag von Brüssel ein offenes Haus ohne besondere Sicherheitskontrollen. In den letzten zehn Jahren hat sich dies grundlegend geändert, und Sie können sicher sein, dass auch dem heutigen Tag intensive Gefährdungsbeurteilungen vorausgehen und er von entsprechend angepassten Sicherheitsmaßnahmen begleitet wird. Nichtsdestotrotz spielen die Idee und die Haltung eines offenen Hauses für unser Museum eine zentrale Rolle. Als ich Anfang Januar 2016 die Leitung dieses Museums übernahm, waren unsere beiden Häuser, das Museum Judengasse wie auch das Jüdische Museum im Rothschild-Palais geschlossen, weil unser Träger, die Stadt Frankfurt, mit Unterstützung des Landes Hessen beschlossen hatte, sie einer grundlegenden Sanierung, Erweiterung und Erneuerung zu unterziehen. Als wir etwas mehr als vier Jahre später diesen neuen Museumskomplex wiedereröffnen durften, stellten wir unsere Museumsarbeit unter das Motto »Wir sind jetzt« und formulierten die Haltung, ein »Museum ohne Mauern« sein zu wollen: einladend und freundlich, zugänglich für diverse Menschen mit diversen Hintergründen und Begabungen – beflügelt von der Überzeugung, dass die Geschichte von Jüdinnen und Juden in der Diaspora wie auch in dieser Stadt einmalig und zugleich von universalen Werten gekennzeichnet ist. Die plurale jüdische Kultur ist von zentraler Bedeutung für den Wertekanon der europäischen Gesellschaft. Sie ist sowohl der Ausgangs- wie auch der Bezugspunkt eines europäischen Selbstverständnisses, das vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs und mit Blick auf das Menschheitsverbrechen der Shoah entstand und sich am Umgang mit Jüdinnen und Juden sowie mit anderen gesellschaftlichen Minderheiten, die von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet wurden, behaupten und erweisen muss: Sinti und Roma, LGBTQ, Menschen mit Einschränkungen sowie sozialen Stigmatisierungen. Getragen von der Überzeugung, dass das Sammeln, Bewahren und Vermitteln jüdischer Kulturgüter in Frankfurt auch eine Aufgabe mit genuin europäischem Charakter ist, formulierten wir in Vorbereitung auf unsere Wiedereröffnung ein Mission Statement, das für unsere Arbeit nach wie vor maßgeblich ist. Es endet mit den Worten: »Die jüdische Erfahrung von Diskriminierung und Gewalt wie auch des Ringens um Gleichberechtigung und soziale Teilhabe ist von unverminderter Aktualität. Vor diesem Hintergrund wollen wir zu interkultureller Verständigung und zur Selbstreflexion anregen. Wir verstehen unsere Arbeit als vernetztes Handeln im digitalen und sozialen Raum und wirken darauf hin, dass in Europa offene, aufgeklärte und zivile Gesellschaften fortbestehen, in deren Mitte Jüdinnen und Juden weiterhin leben wollen und können.«

Als wir uns auf den Wortlaut dieses Statements einigten, ahnten wir nicht, dass der Anschlag von Halle am 9. Oktober 2019, die Pandemie in den Jahren 2020/21, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine seit Februar 2022, das Massaker von Hamas am 7. Oktober 2023 und der darauffolgende Krieg in Israel, Gaza und Libanon unsere Gegenwart in kurzer Zeit so drastisch verändern sollte. Seit mehr als einem Jahr befinden wir uns nun in einer Art Abwehrkampf gegen Hass, Hetze, Desinformation und Gewaltbereitschaft und spüren, was das Sprichwort »Jews are the Canary in the Coal Mine« impliziert: Der Sauerstoff der demokratischen Werte, auf welchen die europäische Union begründet ist, wird dünner. Wir haben es uns daher zur Aufgabe gemacht, dieses Poröswerden demokratischer Werte in unserer Museumsarbeit zu thematisieren, indem wir etwa über die zunehmende Polarisierung des deutschen Feuilleton-Diskurses entlang der Linien Wissenschafts-, Kunst- und Meinungsfreiheit auf der einen und Recht von gesellschaftlichen Minderheiten auf Schutz vor Diskriminierung und Verleumdung auf der anderen Seite diskutieren. Auch machen wir seit einiger Zeit immer wieder öffentlich auf den Vandalismus an den beiden von uns betreuten Erinnerungsstätten an die Shoah aufmerksam, ebenso wie auf die Erosion des Vertrauens von Jüdinnen und Juden, in diesem Land sicher und in Würde leben zu können. Im Rahmen einer konzentrierten Bildungsoffensive versuchen wir seit dem 7. Oktober des vergangenen Jahres nicht nur, dem gestiegenen Beratungsbedarf von Lehrerinnen und Lehrern im Umgang mit antisemitischen Äußerungen und Aggressionen an Schulen nachzukommen, sondern auch das Verständnis und die Sensibilität in der breiten Gesellschaft für Antisemitismus zu erhöhen. Inmitten all unserer Bemühungen, auf die rasanten Veränderungen unserer Gegenwart zu reagieren, widmen wir uns aber weiterhin der Aufgabe zu erforschen und zu verdeutlichen, dass Jüdinnen und Juden mitten »im Herzen von Europa« – wie das Motto von Eintracht Frankfurt lautet – seit mehr als 850 Jahren leben. Keine andere Stadt in Deutschland kann auf eine derartige longue durée jüdischer Existenz zurückblicken. Und kaum eine zweite Stadt kann von sich behaupten, so entscheidend von ihrer jüdischen Bevölkerung geprägt worden zu sein. In den letzten 850 Jahren wirkten Jüdinnen und Juden in Frankfurt kontinuierlich darauf hin, die Lebensbedingungen nicht nur der eigenen Gemeinschaft, sondern seit der Aufklärung auch der Gesellschaft insgesamt zu verbessern – dies gilt nicht nur für das Profil Frankfurts als internationalem Handels- und Finanzplatz, sondern auch für den sozialen Zusammenhalt innerhalb der Stadt: die Gesundheits- und Sozialfürsorge, die Bildung, Wissenschaft und Kultur. Das Leben von Jüdinnen und Juden in Frankfurt war und ist von dem geprägt, was in der jüdischen Tradition Tikkun Olam heißt, das Gebot für jeden, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Die europäisch-jüdische Geschichte, die wir in unseren beiden Museen erzählen, ist daher von einem kontinuierlichen Kampf um die Verbesserung der allgemeinen Lebensumstände gekennzeichnet. Sie ist eine Geschichte von Rückschlägen und erkämpften Freiheiten, von Vertrauen in die Mehrheitsgesellschaft und bitterem Verrat, von Gewalt und Engagement, von Widerständigkeit, Mut und Enttäuschung. Diese Geschichte, die Jüdinnen und Juden in dieser Stadt, in Deutschland und Europa sowohl schreiben, gestalten wie auch erleben und erdulden, wird andauern – wenngleich sich ihre Vorzeichen beständig ändern. Der heutige Tag nimmt eine Reflexion über diese Vorzeichen jüdischer Existenz in der Gegenwart vor. Es gilt sie im Sinne von Tikkun Olam, dem Gebot der Heilung, zu ändern – und eben dafür braucht es viele Institutionen, eine engagierte Zivilgesellschaft wie auch mutige Personen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2024-1/2025