Die Berliner Prinzessinnengärten haben über zehn Jahre den Kreuzberger Moritzplatz grüner, sozialer, schöner gemacht. 2020 sind sie auf den ehemaligen Friedhof Neuer St. Jacobi umgezogen. Gründungsmitglied des Kollektivs, Robert Shaw, spricht mit Sandra Winzer über Herausforderungen für Urban-Gardening-Projekte und nachhaltige Perspektiven für das Gärtnern in der Großstadt.

Sandra Winzer: Herr Shaw, die Prinzessinnengärten sind eine der ältesten Urban-Gardening-Initiativen in Berlin. Was zeichnet sie aus?

Robert Shaw: Das Konzept der Prinzessinnengärten haben wir 2008 gestartet, die erste Fläche hatten wir dann 2009. Am Moritzplatz in Berlin-Kreuzberg lag eine der damals noch zahlreichen Brachflächen in Berlin. Ursprünglich sah unser Konzept das »Bildungsgärtnern« vor, also Wissensvermittlung über nachhaltige Lebensmittel in der Stadt. Flankiert durch eine Gastronomie, durch die wir uns auch heute noch finanzieren. Wir arbeiten mit hauptamtlicher Arbeit, haben mittlerweile knapp 40 Beschäftigte. Im Kern geht es aber auch vor allem um unseren Nachbarschaftsgarten, durch den wir die Themen Gemeinschaft, Lebensmittelproduktion, Saisonalität und Nachhaltigkeit aufgreifen.

Inwiefern prägen Sie nachhaltiges Verhalten durch Ihr Konzept?

Wir versuchen, eine erfahrbare und praktische Komponente zu gestalten und auch selbst Dinge auszuprobieren. Es geht um Fragen, wie »Wie kann man Lebensmittel in der Stadt anbauen?«. Im Grunde geht es um die Forderungen des Weltagrarberichts von 2019 – kleinteilig ökologisch, welche Probleme treten da auf? Was macht man mit einer riesigen Menge Fenchel, die man plötzlich zur Verfügung hat? Auch Saisonalität gilt es zu lernen. Wann sind welche Produkte reif? Was kann ich als Konsument wann im Supermarkt kaufen, um davon ausgehen zu können, dass es regional produziert ist? Es sind Erfahrungswerte, die man durch das Mitgärtnern bei uns gewinnt.

Urban Gardening findet oft an außergewöhnlichen Plätzen statt – da wird mit selbst gezimmerten Kästen oder ausrangierten Tetra-Paks gepflanzt, um die Pflanzen gegebenenfalls später wieder verschieben zu können. Muss man beim »Pflanzen in der Stadt« häufiger zu außergewöhnlichen Mitteln greifen?

Ja. In der Stadt ist Gärtnern erst einmal nicht vorgesehen. Dafür gibt es keinen festen Ort. Wir mussten zunächst Nischen finden. 2009 waren das Brachflächen, weil es zu dieser Zeit in Berlin noch einige davon gab. Mittlerweile aber wird auch hier um jeden Quadratmeter gekämpft, nicht zuletzt durch den Wohnungsmangel und -bau. Inzwischen finden Urban-Gardening-Projekte an öffentlichen Plätzen, auf Dächern oder, wie bei uns, auf alten Friedhöfen statt. Langfristig muss man Alternativen finden. Urban Gardening ist mittlerweile keine »Mode« mehr, die zwei, drei Jahre Bestand hat und dann wieder verschwindet. Es ist wertvoller und fester Bestandteil zivilgesellschaftlicher Aktivitäten in der Stadt. Auch wir, als urbane Gärten, müssen uns kontinuierlich nach Flächen umgucken, bei denen wir damit rechnen können, ein paar Jahre bleiben zu dürfen. Auch wir brauchen Planungssicherheit.

Seit Start der Prinzessinnengärten standen Sie immer wieder vor der Frage, ob Sie auf dem Gelände bleiben dürfen. Wie ist die aktuelle Situation?

Begonnen haben wir am Moritzplatz 2009. Im Winter 2019/2020 sind wir auf einen alten Friedhof umgezogen. Der ist geschlossen, dort finden keine Begräbnisse mehr statt. Momentan haben wir eine Perspektive von 25 Jahren an diesem Ort. Das ist zum ersten Mal so. Am Moritzplatz hatten wir fast jährlich mit sich erneuernden Mietverträgen und Förderanträgen zu kämpfen. Durch den Umzug haben wir nun Planungssicherheit gewonnen. Das gilt für viele andere Gardening-Projekte, die ich kenne, leider nicht.

Inwiefern kann Urban Gardening als sozialer Begegnungsraum dienen? Welche Rolle spielt die Begegnung unterschiedlichster Herkünfte dabei?

Ich glaube, das ist sogar das Hauptthema des Gartens. Das Konzept entstand nach dem Vorbild eines kubanischen Modells urbaner Landschaft.

Es wurde stark von Nachbarschaften getragen, war eine nachbarschaftliche Bewegung, die auf Nahrungsmittelmangel auf Kuba reagiert hat. Menschen kamen zusammen, die eigentlich keine Fähigkeit im Anbau von Gemüse und anderen Nahrungsmitteln hatten. Durch gemeinsames Agieren und den Zusammenschluss von Wissen haben sie sich diese Fähigkeiten angeeignet. Der Unterschied zwischen Kuba und Deutschland ist aber, dass dort aufgrund der Kultur ein Zusammenwirken der Menschen in nachbarschaftlichen Verbünden im öffentlichen Raum ohnehin stattfindet. Menschen sitzen vor der Tür, unterhalten sich, kommen zum Essen zusammen. Das ist etwas, was bei uns in der Großstadt kaum stattfindet. Unsere Prinzessinnengärten sollen das möglich machen. Der Garten ist eine Art halb öffentlicher Raum, an dem zu den Öffnungszeiten jederzeit Menschen hinzukommen und auf ihre Art und Weise teilnehmen können. Je verschiedener die Menschen und damit auch die Sichtweisen und Ideen, desto reicher wird unser Garten.

Worin unterscheiden sich die Perspektiven und Menschen, die zu Ihnen kommen?

Es gibt unterschiedliche kulturelle Perspektiven, unterschiedliche Sozialisierungs- oder altersbedingte Perspektiven – das empfinden wir als Bereicherung. Unser System basiert darauf, alle Interessierten und Nachbarschaft so offen wie möglich zu empfangen. Wir sind nicht monetarisiert. Man muss nichts bezahlen, um mitmachen zu dürfen, es gibt keine Mitgliedschaft. Notwendig ist eigentlich nur die Bereitschaft mitzumachen. Davon profitieren wir seit 13 Jahren, das ist der Kern unseres Erfolges. Wir nehmen Menschen mit ihrem Willen, etwas zu tun, ernst und finden einen Weg, ihre Ideen umzusetzen.

Welche sind die Kanäle, über die die Menschen von Ihnen erfahren?

Wir haben eigene Medienkanäle, wie die Webseite und Social Media. Wir nehmen aber auch an Veranstaltungen teil, die Öffentlichkeit erzeugen, geben Interviews. Der Hauptkanal ist aber eigentlich die Nachbarschaft selbst. Wenn man beobachtet, wer zu uns kommt, sind das zu 90 Prozent Nachbarinnen und Nachbarn. Sie spazieren vorbei, sehen ein Schild und die Gärten und werden neugierig. Viele fragen einfach nach und bekommen Lust mitzumachen.

Das städtische Gärtnern begeistert immer mehr Menschen, auch durch Kleingartenparzellen. Haben Sie den Eindruck, das Interesse von Bürgerinnen und Bürgern an der Mitgestaltung des Lebensumfeldes in der Stadt nimmt zu?

Ja, auf verschiedenen Ebenen. Es gibt zwei Konstanten, die uns schon immer Zulauf beschert haben. Die eine ist die Auseinandersetzung mit Nahrungsmitteln. Viele haben Lust, darüber mehr zu erfahren. Auch ich bin nach wie vor Lernender, das darf man nicht unterschätzen. Ein anderer Punkt ist das Bedürfnis nach Gemeinschaft im öffentlichen Raum, nach gelebter Nachbarschaft. Gerade im westeuropäischen Raum ist dieser »Community-Aspekt« ein wenig verloren gegangen. Außerdem spüren wir, dass Krisen wie die Wirtschaftskrise oder Corona dazu führen, dass mehr Menschen zu uns kommen.

Stichwort Corona – haben Sie einen starken Unterschied in der Pandemiephase zu sonstigen Zeiten erlebt?

Auf jeden Fall. Unsere Gastronomie, die uns mitfinanziert, war geschlossen, das war finanziell schwer für uns. Andererseits hat das Gärtnern im Außenbereich bis zu 40 Personen erlaubt, hierzu gab es eine Klausel in Berlin. Wir waren damals eine der wenigen Teilhabeeinrichtungen, die noch geöffnet waren. Alles hat draußen stattgefunden, dadurch kamen wesentlich mehr Menschen als vor Pandemiezeiten.

Ihr Garten ist nicht nur sozialer Begegnungsraum. Ihnen ist auch das kulturelle Veranstaltungsangebot wichtig, es geht nicht »nur« ums Gärtnern …

Ja, Kultur ist uns wichtig. In Deutschland ändert sich das Begräbnis- und Trauerverhalten zum Beispiel. Viele Friedhofsflächen werden nicht mehr benötigt. Sie können aber nicht bebaut werden und sind für Eigentümer schwierig zu nutzen. Mit unserem Projekt auf dem alten Friedhof sind wir ein Pionier, der versucht, auch Kulturveranstaltungen anzubieten. Wir versuchen, eine tolle Kultur auch auf dem Friedhof zu etablieren. Diese grüne Fläche in der Stadt kann man als Veranstaltungsort nutzen. Insbesondere während Corona war das Ganze noch mehr nachgefragt, weil alle Kulturstätten geschlossen waren. Wir haben beim Eingangsbereich ein Café und eine kleine Bühne – dort hatten wir Lesungen und andere kulturelle Veranstaltungen, fast wöchentlich. Das funktionierte bedingt, weil es einen Nachbarn gab, der sich zu Beginn jeder Veranstaltung beschwerte. Trotzdem machen wir nach wie vor drei bis fünf angekündigte Veranstaltungen im Jahr, um Beschwerden zu vermeiden.

Die Bewegung des Urban Gardening erstreckt sich über Kleingärten hinaus auf Baulücken, Hausdächer, Straßenrandstreifen usw., Flächen also, die zunächst »ungrün« erscheinen. Welche erwähnenswerten Projekte gibt es noch in Berlin?

In Berlin gibt es jede Menge tolle Projekte; Konkurrenz gibt es beim Urban Gardening eigentlich nicht. Jedes Stück Grün mehr in der Stadt ist ein Gewinn. Es gibt in Berlin viele Gemeinschaftsgärten, auch in unterschiedlichen Formen. Auf verschiedenen Webseiten sind viele von ihnen erfasst. Wir versuchen gerade im Rollbergkiez in Neukölln einen Garten großzuziehen. Dort haben wir eine Art »Hebammenfunktion«. Dafür suchen wir Menschen, die Lust haben, diesen Garten mitzugründen und zu pflegen. Es gibt auch ein interessantes Projekt in der Hasenheide: »Lucys Garten«. Ein Garten, der in einer öffentlichen Grünfläche stattfindet. Parks oder andere öffentliche Grünflächen sind aus meiner Sicht ein großes Potenzial von Gemeinschaftsgärten im öffentlichen Raum.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Urban Gardening?

n der letzten Legislatur gab es einen Abgeordnetenhaus-Beschluss. »Gemeinschaftsgärten in der Stadt verwurzelt« hieß der. Daraus ist ein Beauftragter der Stadt Berlin für urbane Gärten entstanden: Toni Karge. Dieser Prozess ist wertvoll, weil er den Prozess von urbanen Gärten als Kategorie in der Stadtentwicklung möglich macht. Ich hoffe, dass das weiter vorangeht. Wir hoffen, dass über diesen Ansatz eine Art Lobbyarbeit für uns möglich wird, gerade wenn es um die Sicherung von Flächen geht. Jeder Mietvertrag ist aktuell noch immer eine Individuallösung. Ich hoffe, dass der soziale Wert, der Bildungswert und der gesellschaftliche Wert von urbanen Gärten wertgeschätzt wird und sich das in offiziellen Regelungen niederschlägt.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2023.