Wer sich einem universellen Phänomen nähert, tut gut daran, einmal die Erde mit den Augen von Außerirdischen in den Blick zu nehmen. Wahrscheinlich wäre das Element Wasser dasjenige, was sie am meisten verwundern und anziehen würde: Grundlage von biologischem Leben auf der Erde, aber auch eine Substanz, ohne die der Alltag der Menschen nicht zu denken ist – den Durst stillend, reinigend, nährend. Dazu kommen an die 70 physikalisch-chemische Anomalien, die es kennzeichnen, die drei Aggregatzustände, die Oberflächenspannung, die Fähigkeit, zu reinigen und zu lösen, die kein anderer Stoff hat.

Mythen spiegeln Lebensumstände der Menschen. Die Geschichten geben ihnen Kraft zu überleben, sie bilden den großen Rahmen, in dem sich das kleine Leben bewegt. Als solche Narrative sind sie in immer neuen Gewändern auch heute noch relevant. Das gilt für die Sprache, in der wir oft auf Wasserzustände rekurrieren: verwässerte Ideen, überflüssige Worte, Einflüsse, Vernebelung von Tatsachen, Schnee von gestern, Informationsflut, eisige Zeiten und ähnlichen Worthagel.

Grund genug also für die Aliens, nachzuschauen, was die Menschen über dieses Phänomen in ihren Büchern und Mythen erzählt haben. Sie werden feststellen, dass in den meisten Kulturen die Schöpfung mit dem Wasser beginnt – sei es als Urchaos wie in Babylon oder als gebärende Materie. Im biblischen Schöpfungsbericht schwebt Gottes Geist über dem Wasser. Die Verbindung von Geisteshauch und Materie wird die Welt und später den Menschen erschaffen. Vom indischen Rigveda um 1200 v. Chr. und von der finnischen Kalevala bis zu den Mythen der Weltschöpfung im alten Amerika ist fast immer das Wasser der Urgrund, aus dem sich Erde löst und von dem sich der Himmel trennen muss. Evolutionär und biologisch gesehen ist Wasser unsere Matrix. Arthur C. Clarke hielt es daher für irreführend, den Planeten »Erde« zu nennen, er müsse vielmehr »Ozean« heißen.

Aus menschlicher Sicht muss Wasser als formlose Masse in geordnete Bahnen gelenkt werden, um Zivilisation zu ermöglichen. So sieht es noch der Doktor Faust, der in Teil II von Goethes Drama dem Meer durch Kanäle und Dämme Land abtrotzen will. Die Mythen zeichnen diese Zähmung der Natur als Kampf der Götter und Helden gegen Seeungeheuer. Sie müssen als Chaosträger besiegt werden – so in der nordischen Midgardschlange, die Thor bekämpft, oder in den indischen Weltschlangen, die das »Quirlen der Ozeane« bewirken.

Wassergötter sind oft ambivalent. Sie können für Stürme verantwortlich sein wie für gutes Segelwetter. Der griechische Meeresgott Poseidon half den Trojanern beim Bau ihrer Stadt, aber als sie mit der Bezahlung haderten, schickte er ihnen aus Zorn ein Seeungeheuer. Götter sind wie die Menschen: hilfreich, eifersüchtig, gierig oder weise.

Dazu gehört das Wohltuende des Wassers, es macht die Erde fruchtbar. Der ägyptische Gott Hapi war mit der jährlichen Nilflut verbunden. Er hat Brüste und einen dicken Bauch, ist androgyn wie manches Urwesen, aus dem die Schöpfung entsteht, und seine Haut ist blaugrün wie das Wasser. Die Priester brachten Opfer und begannen die Nilmessungen. Im indischen Pantheon bringt Indra Regen, indem er den Gott der Trockenheit und des Todes besiegt.

Wasser kann auch eine Waffe der Götter werden, wenn ihnen die erschaffenen Wesen entweder zu viel oder zu laut werden – wie im sumerischen Gilgamesch-Epos von ca. 2400 v. Chr. –, wenn sie sündigen wie in der Genesis, nicht mehr opfern oder sich anmaßen, Göttern gleich zu sein – siehe Platons Geschichte über Atlantis. Dann lassen die Götter Fluten auf die Erde los, bei der große Teile der Menschheit hinweggerafft werden. Doch gibt es immer einige Menschen, die rechtzeitig gewarnt werden und z. B. mit einem Schiff die Flut überleben – nicht nur in der Bibel wie bei Noah, in mesopotamischen oder griechischen Mythen, sondern auch in mexikanischen oder malayischen Erzählungen. Mit der großen Flut verbindet sich dabei immer die Hoffnung auf eine Wiedergeburt, einen Neubeginn der Menschheit.

In vielen Kulturen dient das Wasser der Reinigung – von der jüdisch/christlichen Taufe bis hin zum geweihten Wasser in der orthodoxen Kirche. Im Islam, im Judentum wie im Hinduismus wird großen Wert auf Reinlichkeit im Umgang mit dem Heiligen gelegt. Der Reinheitskultus ist auch im japanischen Schintoismus ausgeprägt. Als der Gott Izanagi die Augen nach dem Besuch der Unterwelt in einem Fluss reinigte, entstanden die Sonnengöttin und der Mondgott. Als er die Nase säuberte, erschuf er den Sturmgott. Der Ganges wiederum ist der Fluss der Reinigung par excellence. Die Göttin Ganga ist bekannt für ihre Heil- und Reinigungskräfte. Als sie sich aus dem Himalajya auf die Welt der Menschen stürzte, musste sie von Shiva gezähmt werden, indem er sie in seinen Haaren einfing. Heilsam für die Menschen wurde sie erst wieder, als ein Heiliger dem Shiva große Opfer in Form von Anbetung und Askese gebracht hatte. Darauf löste Shiva den Haarwirbel und ließ Ganga herabfließen. Seither ist der Ganges für die Lebenden ein heilendes Bad. Für die Toten aber, deren Asche oder Knochen er aufnimmt, bedeutet er die Möglichkeit, dem Kreislauf der Wiedergeburt zu entkommen. Flüsse bilden eine Grenze zwischen Leben und Tod, sie sind Übergänge, wie Acheron und Styx im antiken Mythos.

Die Mythologie bevölkert alle Formen der Flüssigkeit: Es können Götter über Flüsse und Wassergeister über Seen und Teiche herrschen, Nymphen über Quellen wachen, Nixen in den Wellen tanzen und mächtige Götter in Palästen am Meeresgrund hausen. Alle verkörpern Aspekte des Elements. Sie fordern den richtigen, ehrenden Umgang des Menschen mit dem Wasser. Die mythische Verehrung von Quellen und der Reinhaltung des Wassers ist ein Imperativ, denn der Tod der Geister kann zur Selbstauslöschung des Menschen führen. Wer das Wasser in seiner ökologischen Bedeutung missachtet, entzieht sich die eigenen Grundlagen.

Verfremden wir zum Schluss noch einmal den Blick und stellen uns vor, dass Mythen bzw. Narrative selbst Wasser wären. Dann sähen wir – mit den Außerirdischen –, dass es flüssige Geschichten gibt, die sich der Zeit oder Person anpassen. Erzählungen, die gegen den Strom schwimmen, Strudel bilden, die Menschen ablenken, in Gefahr bringen oder eine neue Wendung herbeiführen. Narrative, die über die Ufer treten, befruchtende und verwüstende Geschichten, mit denen wir uns gegenseitig belohnen oder bestrafen. Die Mythen erscheinen in Aggregatzuständen wie das Wasser: Sie können unser Denken flüssiger machen, das Vergangene in die Zukunft tragen wie der Fluss. Sie können tief sein wie der Marianengraben, aber als Pfützen uns zwingen, achtsam zu gehen. Sie können auch das Denken zu Ideologien einfrieren oder mit nationalem Dunst vernebeln. »Des Menschen Seele / Gleicht dem Wasser« wusste Goethe. Die Mythen haben der Menschheit geholfen, mit dem Wasser gut umzugehen, es zu fürchten, zu achten und zu lieben. Die Wissenschaft verlangt von uns heute Ähnliches, denn wie der Meeresforscher Jacques-Yves Cousteau sagte: »Die Menschen schützen das, was sie lieben.«

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2023.