Wir können queere Comic-Figuren erschaffen, die böse sind«, raunte Jennifer Camper mit diebischer Freude in der Stimme bei der »Queers & Comics Conference« 2019 in New York bei ihrer Rede ins Publikum. Denn die ersten queeren Comic-Figuren sollten genau dies nicht sein. Sie hätten vielmehr perfekt sein müssen, um Vorurteile in der Mehrheitsgesellschaft auszuräumen. Sie selbst freue sich, wenn es jetzt auch endlich queere Antiheldinnen und Bösewichte geben könne, wenn es die jeweilige Geschichte hergebe, sagte Camper, die gemeinsam mit Justin Hall die Ausgabe der zweijährlich stattfindenden Konferenz organisierte. Sie selbst hatte mit »Juicy Mother« 2005 – und dem zweiten Teil 2007 – die erste echte Anthologie von Comics mit lesbischen und schwulen Figuren herausgegeben, seit die »Gay Comix«-Magazine von 1980 bis 1998 eine erste periodische Sammlung überwiegend homosexueller Hauptpersonen boten und zugleich die ersten queeren Künstlerinnen und Zeichner der US-amerikanischen Comic-Welt und darüber hinaus zusammenbrachten, darunter auch Roberta Gregory, die mit »Bitchy Bitch« und »Bitchy Butch« schon in den 1990er Jahren wütende Antiheldinnen etablierte.

Die Charaktere in »Juicy Mother« waren ähnlich eklektisch. Neben (selbst-)ironischen Darstellungen schwulen Großstadtlebens fanden sich auch hier schon Familienkonstellationen, in denen sich beispielsweise die Kinder eines Männerpaares und eines Frauenpaares anfreunden, aber auch interkulturelle und sozioökonomische Aspekte etwa mit Campers Protagonistin Rania, einer lesbischen, arabischstämmigen Frau, die in Nachtschichten in einer Fabrik arbeitet.

Neben vielen heute noch kreativen Köpfen waren auch der 2019 verstorbene Howard Cruse und die ähnliche Standards setzende Alison Bechdel in den frühen Heften und Anthologien vertreten. Der Protagonist in Howard Cruses Hauptwerk »Stuck Rubber Baby« von 1995 ist ein weißer Junge aus den Südstaaten der USA, der sich in den 1960er Jahren mit freiheitsliebenden Freunden unterschiedlicher Hintergründe in einer Aufbruchstimmung wiederfindet, die immer wieder durch homophobe und rassistische Taten Rückschläge erleidet.

Alison Bechdel ist oft selbst ihre Protagonistin, wenn sie in Werken wie »Fun Home« oder »Are You My Mother« die Untiefen ihrer Familiengeschichte auslotet, ihr eigenes Coming-out reflektiert und die vermutlich versteckte Homo- oder Bisexualität ihres bei einem seltsamen Unfall verstorbenen Vaters zu ergründen versucht. Damit ist Bechdel, die schon in den 1990er Jahren mit »Dykes To Watch Out For« liebevoll eine lesbische Großstadt-Clique darstellte und auch karikierte, sicher eine der Autorinnen, die das autobiografische Zeichnen vorangetrieben haben.

Jedenfalls beziehen sich auf sie auch heute noch viele, vor allem US-amerikanische feministische Zeichnerinnen, die ihre eigenen Coming-out- oder Coming-of-Age-Geschichten in Comics umgesetzt haben. Die genannten frühen Magazine oder Anthologien waren gleichzeitig ein kollektives Coming-out der Künstlerinnen und Künstler selbst – nicht selten verbunden mit der bangen Frage, was das für die eigene zeichnerische Karriere bedeuten würde.

Vielschichtige, ambivalente Figuren und gebrochene Charaktere waren zuvor eine Seltenheit in queeren Comics. Denn in Zeiten, in denen beispielsweise offen gelebte Homosexualität ein Tabu war, mussten entweder sublime Andeutungen genügen, damit Geschichten überhaupt erscheinen konnten. Oder es gab im Gegenteil überbordende Orgien in sehr explizit gezeichneten Comics für eine recht spitze Zielgruppe – die aber sicherlich nicht offen in Buchläden verkauft oder von renommierten Verlagen geführt werden konnten. Frühe Underground-Comics konnten in vielen, auch westlichen Ländern in den 1960er oder 1970er Jahren teils nur unter der Ladentheke oder per Mailorder vertrieben werden.

Umso freier die Darstellung abseits des verlegerischen Mainstreams: Übermännliche Charaktere wie Kake der finnisch/US-amerikanischen Zeichnerikone Tom of Finland, die mit gigantischen Geschlechtsteilen und übertriebenen Muskeln ausgestattet waren – vielleicht auch als Überkompensation für die heteronormative Welt, die im täglichen Leben viele der Comicschaffenden, aber auch der Lesenden umgeben haben dürfte. Seit den Underground-Comics der 1970er Jahre war mehr Doppelbödigkeit bei den Charakteren zu finden, und in den 1980er Jahren warfen zaghafte Schritte in den Mainstream ihre Schatten voraus. In Deutschland begann Ralf König, mit fast ausschließlich schwulen Figuren wie dem immer wieder in seinem Werk erscheinenden promisken Paar Konrad und Paul zu arbeiten. Sie wurden so populär – und erlebten online in Coronazeiten einen neuen Boom –, dass Ralf König auch mit ihnen zu einem der erfolgreichsten und meistübersetzten deutschsprachigen Comic-Künstler überhaupt wurde.

In den frühen 2000er Jahren wurden mehrere Charaktere in US-Superhelden-Comics queer umgedeutet, was bei immer wieder neu anlaufenden Serien mit verschiedenen Inkarnationen der jeweiligen Heldinnen möglich ist, die in neueren Heften oder auch Filmen als lesbisch oder bi dargestellt werden – am aufsehenerregendsten sicherlich bei Batwoman.

Auch weitere Buchstaben des LSBTTIQ-Spektrums finden ihre Repräsentanz in Comic-Figuren. Während Asexualität erst seit Kurzem mehr Aufmerksamkeit erfährt – etwa mit der Figur Jughead aus der US-Jugend-Comic-Serie »Archie« – gibt es inzwischen ein breites Spektrum an transgeschlechtlichen Charakteren. Auch hier hat sich die Palette an Figuren weiterentwickelt, da es nicht mehr nur um die notwendige Darstellung tragischer Diskriminierungserfahrungen oder schmerzhafter Coming-out-Prozesse geht, sondern verschiedene, auch lebensbejahende, starke Charaktere in neuen Geschichten Einzug in die Comic-Welt halten.

Ein Beispiel aus der jüngsten Zeit ist Jet, die Hauptfigur in »Küsse für Jet« von Joris Bas Backer, der eine unaufgeregte Grunge-Jugend in den 1990er Jahren mit einer beginnenden Transition zeigt. Auch dies dürfte ganz im Sinne Jennifer Campers sein, die nicht nur vielseitigere Charaktere einforderte, sondern auch generell davon sprach, Stereotype zu brechen und so neue Wege einzuschlagen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2023.