Die documenta in Kassel findet seit 1955 alle fünf Jahre statt, als weltweit bedeutendste Ausstellung zeitgenössischer Kunst. Getragen und finanziert wird sie von der Stadt und dem Land Hessen, finanziell gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes. Aufsichtsratschef ist derzeit der Kasseler Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD). An der Spitze der documenta steht die Generaldirektorin bzw. der Generaldirektor. Unterstützt wird sie bzw. er von einem fünfköpfigen künstlerischen Team. Im Februar 2019 berief eine internationale Findungskommission die indonesische Künstlergruppe ruangrupa als Kuratoren und künstlerische Leitung für die documenta fifteen. Die Kommission begründete ihre einstimmige Entscheidung damit, dass ruangrupa in der Lage sei, »vielfältige Zielgruppen – auch solche, die über ein reines Kunstpublikum hinausgehen – anzusprechen und lokales Engagement und Beteiligung herauszufordern«. Grundlegendes Prinzip von ruangrupa ist »lumbung«, ein in Indonesien entwickeltes Prinzip ursprünglich zum Zusammentragen von Reis und Lebensmitteln.

Anfang 2022 werden Vorwürfe laut, dass nicht nur Mitglieder von ruangrupa, sondern auch der Findungskommission und der künstlerischen Leitung der vom Deutschen Bundestag 2019 mit großer Mehrheit als antisemitisch verurteilten BDS-Kampagne zum Boykott auch israelischer Künstler nahestehen. Öffentlich gemacht werden die Anschuldigungen vom Bündnis gegen Antisemitismus Kassel. Nachdem mehrere Medien die Recherchen aufgreifen, antwortet Geselle am 16. Januar: »Die documenta ist eine internationale Kunstschau, die nicht allein die deutsche Sicht auf Vermittlung künstlerischer Positionen, sondern gerade die internationale Sicht zum Gegenstand hat.« Eine Überprüfung oder gar einen Eingriff in die künstlerische Freiheit dürfe es nicht geben. Als die Diskussion sich ausweitet, fährt Kulturstaatsministerin Claudia Roth nach Kassel, um mit der Leitung über die Vorwürfe zu reden. Die Grünen-Politikerin hatte 2019 die Anti-BDS-Resolution des Bundestages nicht mitgetragen, in der verlangt wird, Organisationen und Personen, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, nicht mit öffentlichen Geldern zu fördern, und die Länder und Kommunen aufgefordert werden, sich dieser Haltung anzuschließen. Roth lässt sich von Generaldirektorin Sabine Schormann und der künstlerischen Leitung zusichern, dass es auf der documenta keinen Antisemitismus geben werde.

Noch vor der Eröffnung wird allerdings bekannt, dass angeblich keine jüdischen und israelischen Künstler eingeladen wurden, was der BDS-Linie entspräche. Stattdessen will ein palästinensischer Künstler in Kassel das Werk »Guernica – Gaza« präsentieren, in dem Luftschläge Israels gegen Terroristen in dem von der Hamas beherrschten Gebiet, die von dort aus regelmäßig Israel mit Raketen angreifen, mit dem Bombenangriff deutscher Naziflieger auf die baskische Kleinstadt 1937 gleichgesetzt werden. Beides veranlasst Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, in seiner Rede zur Eröffnung der documenta am 18. Juni die Ausstellungsmacher deutlich zu kritisieren. Das Fehlen jüdisch-israelischer Beiträge sei »verstörend«, ein Infragestellen der Existenz Israels nicht hinnehmbar. Er habe deswegen erwogen, nicht zur Eröffnung zu kommen.

Einen Tag später wird der Skandal unübersehbar: Auf dem zentralen Friedrichsplatz vor dem Fridericianum, der Hauptausstellungshalle, ist auf einem großflächigen Banner des indonesischen Kollektivs Taring Padi mit dem Titel »People’s Justice« eine Figur mit Schläfenlocken, blutunterlaufenen Augen und spitzen Zähnen dargestellt, die einen Judenhut mit SS-Runen trägt, und ein Soldat mit Schweinsgesicht, Davidstern und Helm mit der Aufschrift »Mossad«. Das Banner war erst nach dem Ende des Presserundgangs aufgehängt worden – angeblich, weil das 20 Jahre alte Werk noch restauriert werden musste. Die hessische Kunstministerin und stellvertretende Aufsichtsratschefin Angela Dorn äußert »große Besorgnis«. Roth fordert die documenta-Leitung auf, »die notwendigen Konsequenzen« zu ziehen. Taring Padi erklärt, die Darstellungen seien nicht antisemitisch gemeint, sondern »kulturspezifisch auf unsere Erfahrungen während der Militärdiktatur in Indonesien bezogen«. Das Werk werde aber nun verhüllt. Erst einen Tag später, nachdem der öffentliche Druck auch von Roth immer stärker wird, lässt die documenta-Leitung das Banner abhängen. Kanzler Olaf Scholz gibt bekannt, dass er die documenta nicht besuchen wird. Er spricht von einem »abscheulichen« Werk und fordert Konsequenzen für die documenta-Leitung.

Ruangrupa entschuldigt sich am 23. Juni schriftlich: »Wir haben alle darin versagt, in dem Werk die antisemitischen Figuren zu entdecken.« Ein geplantes dreiteiliges Symposion im Vorfeld, auf dem die Gruppe nach der öffentlichen Kritik über Antisemitismus, aber auch »Kunstfreiheit angesichts von steigendem Rassismus und zunehmender Islamophobie« debattieren wollte, hatte sie jedoch kurzfristig abgesagt. Der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Josef Schuster, hatte zuvor kritisiert, dass der Zentralrat dazu nicht eingeladen worden war, trotz dringender Bitte.

Roth fordert Konsequenzen für die Struktur der Kunstausstellung. Der Bund werde künftig mehr Einfluss auf die documenta nehmen. Schormann kündigt eine systematische Untersuchung der ausgestellten Werke an. Einen Rücktritt lehnt sie zunächst ab. Als externer Experte wird der Leiter der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel, hinzugezogen. Der beendet seine Tätigkeit jedoch bereits am 8. Juli wieder, weil Schormann weder geeignete Rahmenbedingungen zur raschen Behandlung der Antisemitismusvorwürfe geschaffen habe, noch es einen ernsthaften Willen gebe, die Vorgänge aufzuarbeiten. Am selben Tag lässt die renommierte Künstlerin Hito Steyerl ihren Beitrag abbauen, weil die Organisatoren keine Verantwortung für die antisemitischen Inhalte übernähmen. Nachdem die Kritik weitergeht, tritt Schormann am 16. Juli als Generaldirektorin zurück. Ihre Nachfolge übernimmt interimistisch der frühere documenta-Geschäftsführer und Gründungsvorstand der Kulturstiftung des Bundes Alexander Farenholtz.

Am 26. Juli wird bekannt, dass in einer auf der documenta ausgelegten Broschüre Zeichnungen eines syrischen Künstlers mit ebenfalls antisemitischer Bildsprache enthalten sind. Das American Jewish Committee und andere fordern daraufhin den Abbruch der documenta. Farenholtz erklärt, die Staatsanwaltschaft habe die Zeichnungen geprüft, sie aber als strafrechtlich nicht relevant eingestuft. Deshalb sei die Broschüre wieder in die Ausstellung aufgenommen worden.

Wenige Tage später berufen die Gesellschafter ein siebenköpfiges Expertengremium, das die Vorgänge aufarbeiten und die documenta-Leitung bei der Analyse möglicher antisemitischer Werke beraten soll. An der Spitze steht die Frankfurter Professorin für Internationale Beziehungen, Nicole Deitelhoff. Weitere Mitglieder sind die Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden Marion Ackermann, die Antisemitismusexpertinnen Julia Bernstein und Marina Chernivsky, Peter Jelavich, Historiker der Johns Hopkins University, Christoph Möllers, Jurist der Berliner Humboldt-Universität, und Facil Tesfaye von der Universität Hongkong. Der Expertenrat kündigt an, jüdische Perspektiven stärker einzubinden. Diese seien bisher kaum berücksichtigt. Irritiert zeigt sich der Expertenrat darüber, dass Farenholtz wesentliche Fragen des Umgangs mit antisemitischer Kunst festzulegen scheine, bevor sie selbst mit der Arbeit begonnen hätten.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2022.