Die documenta fifteen, kuratiert vom indonesischen Kollektiv ruangrupa, ist und war ein Wagnis. Sie hat uns Begegnungen ermöglicht, die wir sonst inner- und außerhalb von Kunstausstellungen hierzulande nur selten machen können: eine Fusion queerer und indigener Ästhetiken der neuseeländischen Gruppe FAFSWAG etwa, die Verlagerung Voodoo-inspirierter Plastiken und Performances aus Port-au-Prince in einen Kasseler Kirchenbau oder die geheimnisvolle Umgestaltung eines Komposthaufens in der Karlsaue zu einem Laboratorium von Kunst und Natur durch La Intermundial Holobiente aus Argentinien. Dazu kommen eine Vielzahl von Gesprächen und Foren, bei denen über globale Machtgefälle inner- und außerhalb des Kunstbetriebs reflektiert werden kann und über die Rolle von Kultur angesichts der existenziellen Bedrohung durch den Klimawandel, aber auch die Vernetzung von internationalen Stimmen mit Gruppen aus der Kasseler Zivilgesellschaft und Kulturszene.

Zur documenta fifteen gehört aber leider auch eine Grenzüberschreitung beim Antisemitismus, wie sie auf einer großen deutschen Kunstausstellung in der Bundesrepublik vermutlich so noch nie geschehen ist: als auf dem zentralen Kasseler Friedrichsplatz auf einem zentralen Werk der Ausstellung eine unbestreitbar antisemitische Darstellung zu sehen war, wie sie viele nachvollziehbarerweise an die düstersten Jahre der deutschen Geschichte erinnerte. Und nicht nur das: Der Umgang mit den antisemitischen Vorfällen von Seiten der Kuratorinnen und Kuratoren war zögerlich und von mangelndem Verständnis für das grundlegende und globale gesellschaftliche Problem des Antisemitismus geprägt.

Die auf der documenta fifteen mehrfach gesichteten antisemitischen Motive zeugen von ungebrochener Aktualität und Reproduktion von Antisemitismus. Es ist daher essenziell, dass die antisemitischen Vorfälle und die damit zusammenhängenden Rezeptionen und Vorgänge rekonstruiert und aufgearbeitet werden. Ich bin dankbar, dass renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit ganz unterschiedlichen Sichtweisen und aus unterschiedlichen Disziplinen sich für eine Zusammenarbeit bereit erklärt haben, damit sie in einen konstruktiven Austausch treten und eine unabhängige Aufarbeitung voranbringen, die uns wichtige Impulse für die Zukunft geben wird.

Sowohl der Vorfall selbst als auch seine Bearbeitung haben gezeigt, dass nicht nur die Chancen, sondern auch die Risiken dieses Wagnisses groß waren. Auch wir als Aufsichtsrat haben die potenzielle Reibung zwischen den Anforderungen einer internationalen Großausstellung und eines kollektiven Arbeitsansatzes anfangs unterschätzt. Als im Januar jedoch erstmals über möglichen Antisemitismus bei der documenta fifteen diskutiert wurde, habe ich gemeinsam mit Claudia Roth den Vorschlag gemacht, ein Beratungsgremium für die documenta einzusetzen, das bei diesem Thema Vorschläge für Arbeitsweisen erarbeiten sollte, die den schlimmen Vorfällen in Kassel hätten vorbeugen können. Der Vorschlag wurde leider seinerzeit vom Kasseler Oberbürgermeister mit dem Hinweis auf mögliche Zensur abgelehnt.

Bei diesem Vorschlag gab es aber, ebenso wie bei der jetzt zur Aufarbeitung eingesetzten fachwissenschaftlichen Begleitung, stets einen klaren Grundsatz: Es gilt die Freiheit der Kunst. Diese hat freilich eine Einschränkung – die Wahrung der Menschenwürde, auch diesseits strafrechtlicher Fragen. Dafür wird Kuratorinnen und Kuratoren, Künstlerinnen und Künstlern ein Vertrauensvorschuss eingeräumt. Wird dieses Vertrauen missbraucht, wie dies bei der Beförderung antisemitischer Ressentiments klar der Fall ist, beginnt die Frage, wie damit umzugehen ist. Im Falle der Arbeit auf dem Friedrichsplatz konnte nach einem Treffen mit dem Aufsichtsrat eine einvernehmliche Lösung gefunden werden: die Entfernung des Bildes.

Bei den zuletzt diskutierten Archivalien der algerischen Gruppe »Archives des luttes des femmes en Algérie« stellte sich die Lage anders dar. Hier veröffentlichten die Kuratorinnen und Kuratoren und die Künstlergruppe eine einseitige Einschätzung, die die Haltung eines großen Teils der Öffentlichkeit und Expertinnen und Experten nicht angemessen wiedergab und damit auch dem Publikum keine freie Meinungsbildung über die Exponate ermöglichte. Hier haben wir also einen offenen Konflikt zwischen Gesellschafterinnen, Gesellschaftern und der künstlerischen Leitung, bei der die exklusive kuratorische Verantwortung liegt. Deswegen haben die Gesellschafterinnen und Gesellschafter der documenta entschieden, dass die Einschätzung der fachwissenschaftlichen Begleitung an anderer Stelle bei der documenta präsentiert und der Öffentlichkeit zur Meinungsbildung zur Verfügung gestellt wird. Gleichzeitig halten wir den Dialog aufrecht. Unser Ziel ist, dass mit den Beiträgen der fachwissenschaftlichen Begleitung auch Veränderungsprozesse befördert werden können.

Diese beiden Beispiele zeigen, dass es in Konfliktfällen, die – wie bei der documenta – im Rahmen des Vertrauensvorschusses entstehen können, keine vorgefertigten Lösungen gibt. Klar ist, dass wir Antisemitismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit auch im Kulturbetrieb deutlich entgegentreten müssen. Dazu bedarf es einer verbesserten Aufklärung und Kommunikation. Zugleich brauchen wir angesichts neuer Ansätze des Kuratierens auch neue Verfahren, um sicherzustellen, dass bei Grenzüberschreitungen, wie beispielsweise antisemitischen Vorfällen, Verantwortlichkeiten und Handlungswege klar sind. Auch dazu wird die fachwissenschaftliche Begleitung, die der Aufsichtsrat am 1. August vorgestellt hat, Empfehlungen aussprechen.

Die Kultur lebt von Wagnissen. Dabei kann gute oder schlechte Kunst entstehen, oft genug aber werden Begegnungen ermöglicht und Denkanstöße gegeben. Antisemitismus steht für das Gegenteil all dessen, er schließt aus und sät Misstrauen. Deswegen muss gerade im Interesse einer freien und inklusiven Kunst alles getan werden, um ihn zu bekämpfen. Die ersten Schritte auf diesem Weg sind wir nun gegangen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2022.