Politik & Kultur hat bei der Künstlerischen Leiterin der Kulturstiftung des Bundes (KSB), Hortensia Völckers, und der Verwaltungsdirektorin der Stiftung, Kirsten Haß, nachgefragt, wie sie auf die documenta fifteen blicken: Welche Position kommt Künstlerkollektiven heute zu? Kommt es zu einem Strukturwandel bei der folgenden documenta? Und welche Rolle spielt die KSB dabei?
Frau Völckers, Frau Haß, bei Erscheinen dieser Ausgabe von Politik & Kultur werden drei Viertel der 100 documenta-Tage vorbei sein. Was ist Ihr persönlicher Eindruck von der documenta fifteen?
Die Kulturstiftung des Bundes hat als Förderin mit einer ganzen Reihe von Ausgaben der documenta über viele Jahre Erfahrungen gesammelt. Es hat sich gezeigt, dass momenthafte Eindrücke noch vor Ablauf der 100 Tage selten Einschätzungen standhalten können, die sich aus einer Gesamtschau ergeben. Gerade bei dieser documenta, deren öffentliche Wahrnehmung durch das Thema Antisemitismus mit tagesaktuellen und zumeist auch gleich grundsätzlichen Feststellungen überfrachtet ist, scheinen uns an überprüfbaren Kriterien ausgerichtete Urteile wichtiger als weitere subjektive Eindrücke. Wir sind froh, dass das bereits vom Bund im Februar empfohlene Expertengremium seine Arbeit aufgenommen hat, um die documenta fifteen wissenschaftlich-analytisch aufzuarbeiten und Empfehlungen an die jetzigen Gesellschafter Land und Stadt zu geben. So viel können wir vielleicht aber jetzt schon sagen: Diese documenta wirft Fragen auf, die uns noch lange beschäftigen werden. Nicht zuletzt diejenige, die ruangrupa zum Leitmotiv der documenta fifteen gemacht hat: Wie können wir miteinander sprechen und wie miteinander lernen? Eine Schwierigkeit ist dabei vielleicht, dass ruangrupa sich nicht die im hiesigen Kulturbetrieb üblichen Formate öffentlicher Diskussionen und Statements zu eigen machte, sondern auf informelle Gesprächssituationen an dezentralen Orten der documenta setzte. Wie das funktioniert, muss man sich eben vor Ort anschauen
Die documenta fifteen ist die erste documenta, die von einem Kollektiv verantwortet wird. Die Kulturstiftung des Bundes hat zum Zeitpunkt dieser Entscheidung noch dem Aufsichtsrat angehört, hatte allerdings kein Stimmrecht. Halten Sie im Rückblick die Entscheidung, ein Künstlerkollektiv zu betrauen, für richtig?
Hier muss man genau sein: Wir haben im März 2018 unsere zwei Sitze im Aufsichtsrat niedergelegt. Gleichzeitig sieht der Gesellschaftervertrag unsere Sitze vor. Wir baten daher um entsprechende Anpassung. Grund für unseren Rückzug war, dass unsere nachdrücklichen Bitten um eine notwendige Reform des Gesellschaftervertrages als Grundlage unserer weiteren Beteiligung nicht umgesetzt wurden, übrigens bis heute nicht. Es ging vor allem um die Rolle des Aufsichtsrats gegenüber den Gesellschaftern.
Die Frage nach dem Kollektiv ist interessant. Auch im Rückblick gesehen halten wir es tatsächlich für eine gute und weitblickende Entscheidung von der Findungskommission, erstmals ein Kollektiv mit der künstlerischen Leitung betraut zu haben. Sie fiel in einer Zeit, in der auch andernorts das tendenziell absolutistische Prinzip einer einzelnen Leitungspersönlichkeit infrage gestellt wurde und der Teamgedanke auch auf Leitungsebene Aufwind bekam.
Vergessen wir auch nicht, dass künstlerische Kollektive eine lange Tradition haben und dabei wunderbare Sachen und spektakuläre Ereignisse entstanden sind. Unser Kulturerbe verdankt der Arbeit von Kollektiven mehr, als uns allgemein bewusst ist. Darüber haben wir auch viel in unserem gemeinsamen Vorhaben mit dem Lenbachhaus »Gruppendynamik. Kollektive der Moderne« gelernt. Aus unserer Sicht war es deshalb eine kulturell gut begründete und zeitgemäße Entscheidung in einer global vernetzten Welt. Ruangrupa hat Idee und Praxis von Kollektivität sehr konsequent umgesetzt und eine gewisse Unübersichtlichkeit in den organisatorischen Verläufen in Kauf genommen. Das ist mit Blick auf den Outcome von Kreativität per se nichts Verdächtiges. Wenn es nicht Werkteile mit menschenverachtender Bildsprache auf der documenta gegeben hätte, würde sich wahrscheinlich niemand über die Tatsache aufregen, dass da ein Kollektiv die Künstlerische Leitung innehat.
Haben Sie schon Ideen für die Struktur der nächsten documenta?
Für die Frage, welche Rolle die Kulturstiftung des Bundes und oder der Bund künftig einnehmen könnte, bedarf es noch einiger Überlegungen und vieler Gespräche. Die Bundesbeteiligung zu erhalten, wäre unser Wunsch und unsere Empfehlung. Aufgrund der antisemitischen Vorfälle auf der documenta fifteen ist der Ruf nach mehr Kontrolle laut geworden. Dahinter steht die irrige Annahme, durch mehr Kontrolle hätte man das Zeigen inakzeptabler Bildsprache verhindern können. Die Wahrheit, mit der wir umgehen müssen, ist jedoch: Wir müssen lernen, adäquat mit Fehlern – auch mit schweren – umzugehen und damit die Grundlage für einen weiterführenden Dialog schaffen, statt ihn abzubrechen. Die Anne-Frank-Bildungsstätte, die nach wie vor mit einem Gesprächspavillon auf der documenta fifteen präsent ist, gibt ein sehr gutes Beispiel für diesen Ansatz.
Ein Förderschwerpunkt der Kulturstiftung des Bundes ist Kultur im internationalen Kontext. Haben Sie den Eindruck oder vielleicht auch schon die Erfahrung gemacht, dass es wichtig ist, internationalen Kuratorinnen und Kuratoren Deutschland und seine Vergangenheit zu erklären und speziell für das Thema Antisemitismus zu sensibilisieren? Ist das eine deutsche Besonderheit oder müsste nicht überall gelten, dass Antisemitismus oder Rassismus im Kunstbetrieb nicht geduldet werden?
Natürlich muss das überall, muss das weltweit gelten. Es gibt keinen höheren Zweck oder Wert und erst recht keinen Grund, um derentwillen Menschenverachtung und ihre verschiedenen Erscheinungsformen hinnehmbar sind. Da die Kulturstiftung des Bundes in der Regel durch ihre Förderung mit Kulturinstitutionen zusammenarbeitet und diese letztlich die Verträge mit den Beteiligten schließen, kommen wir eigentlich nicht in die Situation, dass wir einzelnen internationalen Künstlerinnen und Künstlern direkt irgendetwas erklären oder sie für etwas sensibilisieren müssen. Die Mitarbeitenden in den Kultureinrichtungen kennen die Künstler, die sie einladen, in der Regel auch viel besser als wir. Umgekehrt gehört es natürlich in der Regel zum Grundverständnis international arbeitender Künstler und Kuratorinnen, sich mit der politischen und gesellschaftlichen Situation des Landes zu beschäftigen, in dem sie arbeiten. Ohne ein großes Vertrauen in die Künstler, Institutionen und ihre Leitungen geht es in der Kulturförderung nicht. Dass sie bei kritischen Angelegenheiten verantwortungsbewusst handeln und erfahren genug sind, durch Gespräche möglichen Schaden von allen Beteiligten abzuwenden und Verletzungen vorzubeugen, das gehört zum Grundstock unserer Erfahrungen. Ein solches Ethos beschränkt sich im Übrigen nicht nur auf »internationale« Künstler. Und wir als Stiftung stehen natürlich auch zur Verfügung, wenn Leitungen das Gespräch über Problemlagen mit uns suchen. Was jedoch nicht geht, ist, dass wir uns als »Oberlehrer der Nation« aufspielen und jeden Künstler verpflichten, sich auf Kenntnisse zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts und ihrem unvergleichlichen Zivilisationsbruch überprüfen zu lassen.
Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, hat in einem Interview gesagt, dass der deutsche Kulturbetrieb ein Antisemitismusproblem habe. Wie sehen Sie das? Sehen Sie hierfür Anzeichen bei den Fördervorhaben, die bei Ihnen beantragt werden?
Wie gesagt, bei unseren Fördervorhaben sehen wir dafür keine Anzeichen. Wir bekommen aber mit, wenn es zu antisemitischen Anfeindungen z. B. auf von uns geförderten Ausstellungen in Gedenkstätten kommt. Aber die Kolleginnen dort brauchen natürlich keine Beratung von uns, wie man dem begegnet. Wir verstehen die Beunruhigung des Zentralrats der Juden über den in Deutschland und auch anderswo wachsenden Antisemitismus und fänden den Gedanken unerträglich, dass ihm auch noch im Kulturbereich Vorschub geleistet würde. Wichtig ist aber auch: Der Zentralrat steht nicht allein. Es herrschte von Anfang an eine große Einhelligkeit und breiter Zuspruch, »People’s Justice« wegen der antisemitischen Bildsprache aus der Ausstellung zu entfernen. Schwieriger – und schmerzhaft! – wird es aber, wenn keine Einigkeit herzustellen ist, ob Bildinhalte oder Darstellungen antisemitisch sind, antisemitisch gelesen werden können oder gar den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllen. Hierüber in einem konstruktiven Dialog zu bleiben, ist derzeit kaum möglich. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Wir setzen uns vehement dafür ein, dass Versuche zur Boykottierung israelischer Kulturschaffender ohne Erfolg bleiben und unterstützen vielfältige Projekte mit israelischer oder jüdischer Beteiligung. Und wir sind überzeugt davon, dass der Kulturbetrieb nicht anfälliger ist für Antisemitismus als andere gesellschaftliche Teilsysteme.
Die Kulturstiftung des Bundes steht für staatsferne Kulturförderung. Sie werden zwar aus Mitteln der Kulturstaatsministerin gefördert, ihre Jurys, die mit Expertinnen und Experten aus dem Kulturbetrieb besetzt sind, arbeiten aber unabhängig. Sehen Sie die Gefahr einer stärkeren staatlichen Einflussnahme nach den Problemen mit der documenta fifteen? Haben Sie selbst manchmal schon die Schere im Kopf bei der einen oder anderen Förderung?
Wir beobachten, dass sich die Künste wieder verstärkt mit politischen Fragen beschäftigen. Zunehmend erreichen uns Anträge für künstlerische Vorhaben zu gesellschaftspolitischen Themen, die erbitterte Debatten auslösen können. Selbstverständlich beschäftigt man sich als Förderer, als Jurorin auch in diesen Fällen sehr sorgfältig damit, dass das Projekt sich gleichzeitig gegen jede Form der Menschenverachtung, gegen jegliche Ideologien der Ungleichwertigkeit stellt. Eine staatsferne Kulturförderung ist unseres Erachtens ein sehr hohes Gut. Man sieht ja – horribile dictu – in anderen Staaten, wohin das führen kann, wenn der Staat die Lufthoheit über dem Kulturraum für sich reklamiert. Deswegen: Ja, wir sehen durchaus Gefahren einer stärkeren Einflussnahme. Es sind schon verrückte Zeiten, in denen in Deutschland die Staatsferne der Kulturförderung als Problem, vielleicht sogar als Gefahr gelesen werden kann. Was aber die Kulturstiftung des Bundes angeht, so haben wir über Jahre durch unsere Praxis bewiesen, dass man seine Unabhängigkeit bewahren kann, weil man sorgsam und verantwortungsbewusst mit dem umgeht, was einem anvertraut wurde, nämlich Geld der öffentlichen Hand, das zum Wohl der Gesellschaft einzusetzen ist.
Sehen Sie den BDS-Beschluss des Deutschen Bundestages als Gefahr für die staatsferne Förderpolitik der Kulturstiftung des Bundes?
Die Frage ist zu einfach gestellt und verführt zu simplen Antworten. Und genau das ist das Problem: Um die Schwierigkeiten in der Praxisanwendung des Beschlusses zu beleuchten, muss man verstehen, wie Kulturprojekte entstehen. Wie komplex der Prozess ist, wenn viele Künstlerinnen und Künstler, Kuratoren und Institutionen zusammenarbeiten. Die Schwierigkeit des Beschlusses liegt darin, dass er bedeuten könnte, bei Einsatz von öffentlichen Mitteln müssten die politischen Aktivitäten und Gesinnungen der einzelnen Beteiligten im Vorfeld überprüft werden, bis in deren Vergangenheit hinein. Nicht ihr gezeigtes Werk stünde dann im Fokus, sondern ihre politische Haltung. So kann man weder in der Kultur noch in der Wissenschaft arbeiten. Wir glauben nicht, dass dies bei der Formulierung des Beschlusses gewollt war. Darauf hat auch die Initiative Weltoffenheit hingewiesen. Und wurde – man möchte fast meinen: absichtlich – missverstanden. Vielleicht haben wir in diesem Zusammenhang zu wenig die Drangsalierungen durch den BDS kritisiert, denen auch deutsche Kulturveranstalter zunehmend ausgesetzt sind. Aber wir müssen darüber sprechen können, wo die berechtigte Ächtung des BDS zum unverhältnismäßigen Überprüfen von Einzelpersonen führt.