Nach der Vertragsauflösung von Sabine Schormann als Generaldirektorin der documenta ist der ehemalige Geschäftsleiter der documenta IX und Ex-Verwaltungsdirektor der Kulturstiftung des Bundes Alexander Farenholtz als Interims-Geschäftsführer bestellt worden. Er soll die documenta fifteen aus der Krise führen – Sandra Winzer fragt nach.

Sandra Winzer: Herr Farenholtz, Sie haben Ihre Aufgabe in einer besonders herausfordernden Zeit angenommen. Als Interims-Geschäftsführer haben Sie es sich zur Aufgabe gemacht, die documenta fifteen nach vorn zu bringen bzw. aus der Krise zu führen. Was brauchen wir als Erstes?

Alexander Farenholtz: Im Vordergrund muss zweierlei stehen: zum einen das normale Tagesgeschäft, das in möglichst ruhigem Fahrwasser erledigt werden muss; das ist schon anspruchsvoll genug. Zum anderen müssen Gesprächsfäden dort, wo sie in den letzten Wochen unterbrochen wurden, wieder hergestellt werden. Wir wollen eine Kommunikation ermöglichen, die vertrauensvoll und offen auch mit künftig entstehenden Problemen umgeht.

Welche Erwartungen, glauben Sie, werden an Sie gestellt? Künstlerinnen und Künstlern, Besuchenden, Kritikerinnen und Kritikern, Aufsichtsrat – muss diesen unterschiedlichen Interessengruppen auch unterschiedlich begegnet werden?

Auf jeden Fall. Gegenüber den Künstlerinnen und Künstlern und den Besuchenden verstehe ich die Geschäftsführung – und damit meine ich das gesamte Team – als Einheit, die eine Dienstleistung erbringt, die es den Kunstschaffenden möglich macht, ihre Arbeit so gut es geht zu realisieren. Den Besuchenden soll ihr Besuch so erfreulich und lehrreich wie möglich gemacht werden. Beide Gruppen haben verschiedene Ansprüche, Anforderungen und Wünsche. Gleiches gilt für die Gesellschafter, welche ihrerseits Wünsche und Anforderungen an einen geordneten Ablauf einer solch riesigen Unternehmung haben.

Vor Kurzem gab es erneut die Meldung, dass ein verändertes Kunstwerk für neue Diskussionen gesorgt hat. Das Junge Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft hat der documenta vorgeworfen, ein als antisemitisch kritisiertes Werk in Teilen überklebt zu haben. Es ging um das Abkleben einer Kippa – auf einer Arbeit des indonesischen Kunstkollektivs Taring Padi. Auf dem Werk »All Mining is Dangerous« sind vier Personen mit Geldsäcken zu sehen. Eine Person ist mit langer Nase und wulstigen Lippen abgebildet. Auf dem Kopf trägt sie eine Kippa. Die Kopfbedeckung wurde mit einem schwarzen Stück Klebeband überklebt, so der Vorwurf des Forums. Was sagen Sie zu diesem Fall?

Das habe ich mir in aller Ruhe von den Kuratoren erklären lassen. Es handelt sich dabei nicht um eine Kippa, die überklebt wurde, sondern um eine Topi Haji, eine Hajj-Mütze, die in Indonesien von religiösen Anführern getragen wird. Die Figur, die sie trägt, entstammt dem Figurenkosmos der indonesischen Kulturgeschichte, dem des indonesischen Schattenpuppentheaters, das bis in die heutige Zeit seine Wirkung entfaltet. Bis hin zu Comics, die heute gezeigt werden, tauchen diese dort abgebildeten Charaktere in der Kulturgeschichte Indonesiens regelmäßig auf. Deswegen habe ich kein Verständnis dafür, wie offensichtlich ohne vorangegangene Recherche und ohne Kenntnis der Zusammenhänge des Bildes hier erneut eine Art Skandal angekündigt wird, um den es sich, nach meiner festen Überzeugung, nicht handelt.

Trotz der Antisemitismus-Vorwürfe war der Andrang bei der documenta fifteen groß. Ist sie besser als ihr Ruf?

Ich finde, diese sogenannte Abstimmung mit Füßen ist kein Argument gegen inhaltliche Einwände, die man haben kann und auch darf. Es ist immer so, dass die documenta gerade dadurch ein großer Publikumsmagnet ist, dass Menschen per Word-of-Mouth ihre Erfahrungen ihrerseits weitergeben. Das darf uns aber nicht entlasten von der Aufgabe, Vorhaltungen oder Kritik sachlich begründet zu beantworten. Ich halte die aktuelle Ausstellung für einen Meilenstein in der documenta-Geschichte, aber sie ist umstritten. Diesen Streit muss man auch aushalten.

Sollte man die Vorwürfe von der Ausstellung trennen oder geht das nicht?

Die Vorwürfe und wie mit ihnen umgegangen wird, gehören zur Geschichte der documenta dazu. Diesen Dingen müssen wir uns stellen – auch wenn es richtig ist, dass die vielen anderen Aspekte, die diese Ausstellung zu bieten hat, verdeckt wurden. Ich hoffe, dass sich das aktuell ein wenig korrigiert. Ich könnte mir vorstellen, dass, wenn auch die anderen künstlerischen Leistungen wieder sichtbarer werden, die Formulierung »die documenta ist besser, als ihr Ruf« greifen kann.

An welcher Stelle sehen Sie es als Ihre Aufgabe, auf Kritik zu reagieren – und an welchen Stellen nicht?

Ich sehe es vor allem als meine Aufgabe, auf Kritik zu reagieren, die gewissermaßen handwerklichen Fehlleistungen und organisatorischen Mängeln zuzurechnen sind. Davon hat es welche gegeben. Das war vor allem im Zusammenhang mit der algerischen Gruppe Archive des luttes des femmes en Algérie erkennbar, wo man bestimmte Beschwerden nicht entsprechend dokumentiert und verarbeitet hat. Es gibt täglich Anmerkungen von Besuchenden und Künstlerinnen und Künstlern, die wir aufnehmen und verarbeiten müssen. Die documenta ist ein lernender Organismus. Wir müssen mit offenen Ohren hinhören, wenn wir auf Fehler und organisatorische Mängel hingewiesen werden. Was allerdings nicht zur Aufgabe der Geschäftsführung gehört, ist, die Inhalte der Ausstellung zu kommentieren, zu kritisieren oder zu verteidigen. Das ist allein Sache derjenigen, die diese Ausstellung inhaltlich verantworten.

Dem Hessischen Rundfunk haben Sie gesagt: Bei zukünftigen Prognosen wären Sie vorsichtig – als es um weitere problematische Werke auf der documenta ging. Müssen wir mit mehr Vorfällen rechnen?

Davon gehe ich nicht aus. Ich habe das gesagt, weil man bei einem solch gigantischen Projekt nie sagen kann: »Wir können die Hand dafür ins Feuer legen, dass nie wieder etwas erscheint, was uns kritisch, unbequem oder falsch vorkommt.« Dafür ist das Projekt viel zu umfangreich. Auf der anderen Seite gehen jeden Tag Tausende Menschen durch die Ausstellung, teilweise auch mit dem Anspruch, ihrerseits das ein oder andere zu entdecken, das fragwürdig ist. Ein Fund ist aber seit Tagen und Wochen nicht eingetreten. Vor diesem Hintergrund habe ich eine optimistische Prognose, dass das auch künftig unterbleiben wird.

Wird es auf der documenta Dialogräume geben, wie wird es mit dem Expertengremium weitergehen?

Das Expertengremium ist dankenswerterweise von den Gesellschaftern eingerichtet worden, um die documenta von einer Debatte zu entlasten, die sie schon aus zeitlichen Gründen, aber auch aus Gründen der fachlichen Zuständigkeit überfordern muss. Deswegen bin ich froh darüber, dass dieses Gremium sich mittlerweile etabliert hat. Just hat eine erste Begegnung mit Teilen der Gruppe stattgefunden. Es wurde sich darüber verständigt, es möglichst bald zu einer weiteren Begegnung kommen zu lassen und sich über die Dinge auszutauschen, die in den letzten Wochen zur Diskussion standen. Ich bin sicher, es wird keine bequeme, aber eine fruchtbare Diskussion werden. Die Kuratorinnen und Kuratoren sind sehr offen und konstruktiv eingestellt, weil sie gemeinsam das Interesse verfolgen, die documenta insgesamt zu einem erfolgreichen Ergebnis zu führen.

»Erfolgreiches Ergebnis« – was bedeutet das für Sie?

Dass bis zum Ende der documenta die Ausstellung als das gesehen wird, was sie ist: nämlich ein Gesprächsangebot, was streitbare Positionen vertritt. Das auch provoziert. Das unausgewogen und parteiisch ist, aber keinen Platz bietet für menschenverachtende Positionen. Das entspricht der Grundhaltung dieser Ausstellung und der Grundhaltung der Künstlerischen Leitung der documenta.

Hat die documenta Antisemitismus verharmlost?

Das ist eine Frage, die ich Ihnen nicht beantworten kann und möchte. Ich möchte nicht der Schiedsrichter darüber sein, wer sich auf angemessene oder unangemessen Weise mit dieser Frage auseinandersetzt. Dazu bin ich weder fachlich noch in meiner Rolle als Geschäftsführer berufen. Ich weiß aber, dass in dieser Diskussion genügend Expertise vorhanden ist, um zu einer Bewertung zu kommen, die vielleicht nicht einhellig ist, aber deutlich machen wird, dass der gute Wille der documenta, es nicht zu antisemitischen Positionen kommen zu lassen, unstreitig vorhanden ist.

Wenn Sie einst auf Ihre Interimsstelle zurückblicken – was, wünschen Sie sich, dann sagen zu können?

Dass ich ein bisschen dazu beitragen konnte, die Situation zu beruhigen und die Chance wahrnehmen konnte, zu unterstützen, dass das besondere Risiko, was eine documenta bereit war, mit diesem Projekt einzugehen, sich gelohnt hat und zu einem Meilenstein in der Geschichte der gesamten documenta beigetragen hat.

Vielen Dank. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2022.