Eine Erinnerungskultur ist fast naturgemäß mit der Geschichte einer Nation verbunden – man könnte sogar sagen, dass sie einer der Träger der Geschichte ist. Es sind die umwälzenden und entscheidenden Ereignisse, die sich in der Erinnerung einprägen und damit zu Teilen der gemeinsamen Geschichte werden. Und hier unterscheidet sich Schweden von vielen europäischen und Nachbarländern, waren wir doch in den letzten zwei Jahrhunderten viel weniger von Krieg und existenziellen Katastrophen betroffen. Die Eckpunkte des 20. Jahrhunderts, die in Europa vor allem durch die beiden Weltkriege definiert werden, sind selbstverständlich allen Schweden bekannt, aber wir haben ganz einfach weniger persönliche Bezüge, während fast jede Familie der meisten europäischen Nachbarn mindestens einen Menschen in der Verwandtschaft hat, der im Krieg gefallen, getötet oder vertrieben worden ist.

Diese schrecklichen Ereignisse gehören in Schweden zur Geschichte, aber die Erinnerung an die Toten des Dreißigjährigen Krieges oder der Feldzüge der längst vergangenen schwedischen Großmachtzeit ist nicht von Trauer geprägt, sondern Teil unseres historischen Selbstbildes als Nation. Aus diesen Zeiten stammt die Erinnerung »von oben« – durch die Könige und Feldherren. Zeichen dafür sind klassische Reiterdenkmale, Gemälde von Schlachten in Museen und sogar Straßennamen in Stockholm, wo Breitenfeld, Narva und Wittstock sich mit Straßen kreuzen, die nach den großen Feldmarschällen benannt sind. An den einfachen, einzelnen Soldaten sind nur wenige oder gar keine Erinnerungen erhalten.

Im 20. Jahrhundert hat sich eine andere Erinnerungskultur entwickelt, die sich der Erinnerung eher aus einer Perspektive des Individuums nähert. So haben sich z. B. Denkmale dahingehend verändert, dass sie heutzutage oft Namen von Einzelpersonen aufzählen, wie die »Erinnerungswand« der Luftwaffe mit den Namen jedes einzelnen tödlich verunglückten oder getöteten Fliegers. Allein die Menge von alltäglichen schwedischen Namen macht die Erinnerung mehr persönlich und weniger anonym. Ähnlich ist es im berühmten Vasa-Museum in Stockholm, wo das im Jahr 1628 gesunkene Kriegsschiff »Vasa« zum Großteil anhand von Schicksalen einzelner Mitglieder der Besatzung – mittlerweile sogar durch DNA-Analysen bestätigt – beschrieben wird. Dadurch können sich die Besucherinnen und Besucher besser mit diesen Menschen identifizieren als mit einem historischen König. Es wird eine menschliche Verbindung geschaffen, anstatt nur historische Fakten zu vermitteln.

Bei den schwedischen Streitkräften gibt es seit 2011 eine nationale Gedenkfeier – den Veteranentag –, die zunächst ehemaligen Soldatinnen und Soldaten der UN-Friedenseinsätze gewidmet war, sich aber dann zu einer Feier entwickelt hat, die alle Soldatinnen und Soldaten und andere Aktive der Einsätze umfasst. Schon der Name weist auf die individuelle Perspektive hin, die typisch für die gegenwärtige Erinnerungskultur Schwedens ist. Es wird der Veteranen gedacht, nicht der Nation oder des gewonnenen Krieges. In ihren Reden weisen der König, der Ministerpräsident und andere stets auf den persönlichen Beitrag hin, den jeder Veteran geleistet hat. Darauf, dass jeder Teil eines größeren Zusammenhangs ist und wie uns dies zusammenbindet.

Ein anderer Aspekt ist die Bewahrung der Erinnerungen. Die eigene Geschichte zu vergessen kann sogar gefährlich sein. Falsche Bilder der Erinnerung können benutzt werden, um zu polarisieren, um Vorurteile und Hass zu untermauern. Seit 20 Jahren gibt es daher in Schweden eine Behörde für »lebendige Geschichte«, deren Auftrag es ist, Geschichte zugänglich zu machen, um das Nachdenken über die Verflechtung von Geschichte und Gegenwart zu fördern.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2023.