Demokratie war für mich immer ein Sehnsuchtsort, Heimat, etwas, für das es sich lohnt, etwas oder alles zu riskieren. In der DDR hatte ich gelernt zu schweigen, nur zu reden hinter vorgehaltener Hand, im kleinsten Kreis. Zu Hause Ja und Ja, draußen Nein und Nein. Von Staats wegen gab es nur die eine richtige Meinung. Auch und besonders deshalb bin ich 1989 mit auf die Straße gegangen, die Demokratie zu erobern, zu erstreiten, zu erkämpfen. Doch wer in der Demokratie leben will, die muss mit Streit leben.

Warum? Artikel 20 unseres Grundgesetzes sagt: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.« Das Volk steht da zwar im Singular. In Wahrheit aber ist es ein Plural. Gemeint sind unterschiedlichste Individuen und ihre oft widerstreitenden Meinungen, Probleme, Ideen und Vorlieben. Demokratie ist, wenn der Streit ausgetragen wird, und zwar als echte Auseinandersetzung. Wenn man sich bewusst ist, dass der oder die andere auch recht haben könnte, hilft Streit sogar, die eigene Meinung weiterzubilden, sie zu schärfen, zu ändern oder anzupassen. Alles großartige Erfahrungen der Freiheit. Deshalb bin ich mit Herz und Seele Demokratin. Aber ganz klar: Wer Demokratin sein will, muss streiten wollen. Kürzlich bei meiner Demokratie-Tour habe ich das Gegenteil erlebt: Menschen, die nicht reden wollten, sondern nur schreien und pöbeln. Da ist dann kein Streit mehr, kein Aufeinander-Hören und damit auch keine Demokratie.

Weil aber der Streit so elementar ist für die Demokratie, ist die Demokratie zugleich eine Form, in der der Streit kultiviert wird. Mit Verfahren und Regeln. Einige davon stehen schon im Grundgesetz: Das Prinzip der repräsentativen Demokratie in Artikel 20. Oder die Mitwirkung der Parteien bei der politischen Willensbildung in Artikel 21. Beides Verfahren, die den Streit strukturieren, damit das Volk seine Staatsgewalt ausüben kann. Weitere finden sich z. B. in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages: Dort folgt die Reihenfolge der Reden dem Prinzip von Rede und Gegenrede. Damit kommen verschiedene, auch antagonistische Meinungen zu Wort. Streit wird ermöglicht. Und auch hier gibt es Grenzen: Wer abschweift oder »die Ordnung und die Würde des Bundestages« verletzt, kann einen Ordnungsruf oder ein Ordnungsgeld kassieren und wenn nötig auch der Sitzung verwiesen werden.

Wenn es gut läuft, dann kann das Parlament eine Schule des demokratischen Streites sein. Politikerinnen und Politiker können in ihrem Streiten zu Vorbildern werden, wie konstruktiver Streit funktionieren kann. Dazu müssen die Unterschiede zwischen den Parteien erkennbar werden. Aber die sachliche Ebene darf nicht zugunsten von persönlichen Diffamierungen oder Fake News verlassen werden. Leider erleben wir das derzeit viel zu oft. Wer mit vermeintlich leichten Antworten vereinfacht, schafft Risse im Haus der Demokratie. Gemeinsam müssen wir dafür Sorge tragen, dass aus solchen Rissen keine Spalten werden.

Freiheit und Demokratie sind keine Selbstverständlichkeit. Sie müssen jeden Tag aufs Neue erstritten werden, im Parlament wie am Kaffeetisch.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2023.