J üdische Ritualbäder sind im Gegensatz zu anderen Einrichtungen jüdischer Gemeinden – wie Friedhof oder Synagoge – der Öffentlichkeit üblicherweise verborgen, was mit ihrer Bauweise, vor allem aber mit der Art ihrer Nutzung zusammenhängt. Das Ritualbad, hebräisch Mikwe, dient allein der spirituellen Reinigung, z. B. als Vorbereitung auf den Schabbat, nach Verunreinigung durch Berührung eines Toten, und ist wichtigster Bestandteil der Taharat ha-Mischpacha, sprich der Reinheit der Familie. Hierunter fällt die Verunreinigung des Mannes durch Samenerguss und der Zustand einer Frau während und nach ihrer Menstruation oder einer Entbindung (Nidda). In dieser Zeit ist dem Ehepaar körperliche Berührung, nicht nur in sexueller Absicht, verboten. Der Besuch der Mikwe hebt den Zustand der Unreinheit auf, er trennt zwischen unrein und rein. Auch Geschirr kann in der Mikwe »gekaschert«, also rituell rein, sprich koscher, gemacht werden.
Zurück geht diese religiöse Pflicht auf die Zeit des 2. Jerusalemer Tempels, der unrein nicht betreten werden durfte. Entsprechend viele Ritualbäder wurden von Archäologen in der Nähe des Tempelbergs ausgegraben. Bis heute nimmt die Mikwe in orthodoxen Gemeinden einen hohen Stellenwert ein – auf eine Synagoge kann verzichtet und das Gemeindegebet an anderem Ort abgehalten werden, ohne ein Ritualbad aber ist traditionelles jüdisches Familienleben nicht möglich.
Der Benutzung des Ritualbads geht immer eine sorgfältige körperliche Reinigung voraus, die sicherstellen soll, dass das Wasser alle Körperteile benetzt. Ein etwaiger Schmutzfleck würde den Besuch der Mikwe ungültig machen. Aus dem gleichen Grund werden Bekleidung und Schmuck abgelegt, Nagellack oder Schminke entfernt sowie die Haare geöffnet. Das Untertauchen im rituell reinen Wasser muss vollständig erfolgen, d. h. alle Körperteile – auch die Haare – müssen gleichzeitig unter der Wasseroberfläche sein.
An das Wasser im Tauchbecken, das mit dem Erdboden verbunden sein muss, werden besondere Anforderungen gestellt. Bis ins 19. Jahrhundert wurde in Europa vor allem Grundwasser genutzt, das durch Fugen in dem meist gemauerten Becken einem natürlichen und stetigen Austausch unterliegt. Zumeist führen mehrere Stufen in das Becken hinunter; die in der Literatur oft zu findende Behauptung, es müssten genau sieben sein, trifft aber nicht zu. In den meisten Fällen gibt es einen angrenzenden Raum, in dem das Umkleiden und die Vorreinigung erfolgen, manchmal findet sich auch ein Raum für die Aufsichtsperson, die das Untertauchen überwacht. Unter bestimmten Voraussetzungen kann das Tauchbad auch direkt in einem offenen Gewässer, z. B. im Fluss oder See, erfolgen bzw. Fluss- oder Bachwasser in das Tauchbecken geleitet werden. Den höchsten Reinheitsgrad hat laut Religionsgesetz jedoch Grund- oder Quellwasser. In jedem Fall ist der Einsatz von Pumpen oder das Schöpfen unzulässig, das Wasser muss aus eigener Kraft in das Becken fließen.
Im frühen 19. Jahrhundert machten Behörden vor dem Hintergrund der Aufklärungsbewegung und des besseren Wissens um Hygiene den jüdischen Gemeinden Vorschriften über die Beschaffenheit der Bäder – vor allem hinsichtlich einer Erwärmung und des Austauschs des Wassers. Viele der von den Behörden als unhygienisch eingestuften »dumpfen Badelöcher« wurden verfüllt, und die jüdischen Gemeinden waren gezwungen, neue, moderne Mikwen zu erbauen. Um den Anforderungen nachzukommen, nutzte man nun häufig Regenwasser, obwohl für Regenwasserbecken strengere Vorschriften als für Grund- oder Quellwasser gelten. Hier ist laut Mischna und Talmud eine Mindestmenge von 40 Se’a Wasser erforderlich – z. B. in Babylon, Talmud, Eruvin 4b, Pessachim 109b und Mischna Mikva’ot. Aus dem Becken darf kein Wasser durch eine Undichtigkeit entweichen. Die Maßeinheit Se’a wird in der Tora als Getreidemaß erwähnt, dessen Größe heute umstritten ist. Angenommen werden, je nach Auslegung, zwischen 300 und 800 Liter als benötigte Gesamtmenge für die Mikwe.
Mit der Reformbewegung ging der Besuch der Mikwen in vielen zunehmend liberal eingestellten Gemeinden im 19. Jahrhundert stetig zurück – schon in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts verfügten zahlreiche Gemeinden nicht mehr über eine funktionierende Mikwe und berücksichtigten eine solche auch nicht mehr bei Neuplanungen von Synagogen.
Die Lage von Ritualbädern im Erdboden führte häufig dazu, dass nach deren Aufgabe Seitenwände und Treppen der Anlagen nicht entfernt, sondern lediglich verfüllt wurden, weshalb man bei Bauarbeiten immer wieder längst aufgegebene oder zerstörte Ritualbäder findet. In einem Forschungsprojekt konnte die Bet Tfila –Forschungsstelle für jüdische Architektur 2.880 Ritualbäder in Deutschland vom Mittelalter bis in die Gegenwart nachweisen. Die meisten sind zwar archivalisch belegt, aber oft nicht lokalisierbar oder zerstört. Immerhin etwa 200 dieser Einrichtungen sind vollständig oder zumindest in Teilen erhalten. Und jüdische Ritualbäder werden auch heute im Zusammenhang mit Synagogenneubauten eingerichtet – etwa 30 moderne Mikwen gibt es aktuell in Deutschland.