Rezensionen sind meist eine einseitige Sache. Die Künstler schaffen Werke, die Kritik schreibt auf, was sie davon hält, und das wird öffentlich gemacht. Meistens ist damit die Kommunikation schon zu Ende. In seltenen Fällen beschwert sich der Künstler, redet abfällig über Kritik oder wird handgreiflich. Dass der Maler Neo Rauch mit einem Gemälde auf die Vermutung eines Kritikers reagierte, er tendiere nach rechts, ist einer dieser seltenen Fälle. Überhaupt reagieren die Künstler allenfalls nachdrücklich, wenn die Rezensenten den Daumen senken. Lob hängt vielleicht an Schwarzen Brettern im Theater oder steht in den Klappentexten, wird aber nur sehr selten kommentiert. Am ehesten sind es dabei noch Schriftsteller, die auf Kritik ausführlich reagieren und sich zu Wort melden, wenn sie sich getroffen oder verwundet fühlen.
Das alles ist nicht schlimm, die Künstler müssen sich gar nicht adressiert fühlen. Denn Rezensionen wenden sich nicht primär an sie, sondern an das Publikum. Sie entstanden in Zeiten eines unüberschaubar gewordenen Bücher-, Musik- und Kunstmarktes, um Hinweise darauf zu geben, womit das Publikum seine Zeit verbringen sollte. Pathetischer und mit dem romantischen Kritikbegriff gesagt: Die Kritik entbindet die Reflexion im Kunstwerk, holt aus ihm etwas heraus, das zu ihm gehört, ohne dass es vom Werk selbst explizit gesagt würde. Insbesondere dann, wenn die Kunst nicht länger einer Regelpoetik folgt und Originalität verspricht, wird das durch eine Kritik ergänzt, die am einzelnen Werk zu prüfen versucht, ob es schlüssig, interessant, witzig oder ergreifend ist. All das will Kunst sein, und ob sie es ist oder nicht, bedarf der Begründung. Lessing hat deshalb geschrieben, der Kritiker – er spricht sogar von »Kunstrichter« – füge dem Geschmacksurteil (und der Inhaltsangabe) sein »denn« hinzu.
Rezensionen argumentieren also. Idealerweise sind sie nachdenklich, was auf einen gewissen Zeitbedarf für sie hindeutet. Nachtkritik im Sinne des sofortigen Reagierens auf ein Stück begegnet hier einem Problem. Keinem unlösbaren, aber da Bühnenwerke, wie auch Romane und Gedichte, nicht zeitkritisch sind, man also zumeist nichts verpasst, wenn man die Rezension erst einen Tag später erhält, und niemand zitternd darauf wartet, dringend Nachricht aus den Kammerspielen zu erhalten, ist der Gewinn des sofortigen Besprechens nicht leicht zu sehen. Das heißt nicht umgekehrt, dass längeres Nachdenken stets zu einem Argument führt.
In den Zeitungen ist der Anteil der Rezensionen seit Längerem rückläufig. Die Gründe sind vielfältig: geringere Seitenumfänge, weniger Anzeigen für Buchbeilagen, die Zunahme anderer Themen im Feuilleton, die verblassende Bedeutung mancher Künste, das Desinteresse von Chefredakteuren. Soeben hat Herr Gniffke von der ARD vorgeschlagen, jede Neuerscheinung deutschlandweit im öffentlich-rechtlichen Rundfunk nur noch einmal zu besprechen. Warum es denn mehr als eine geben solle? Intendanten, die an einer solchen Denksportaufgabe scheitern, sind ein Unglück für die Kultur, die sie als Untersparte der Unterhaltung missverstehen. Wir müssen leider den Plural verwenden, denn die Attacken des Hessischen wie des Bayrischen Rundfunks auf ihre rezensorischen Abteilungen sind aktenkundig.
Mitunter wird auch der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vorgehalten, früher sei dort deutlich mehr besprochen worden. Das ist richtig, führt aber zur Rückfrage, ob »früher« das Maß der Dinge ist. Sind denn in den vergangenen Jahren irgendwelche Werke von Belang nicht besprochen worden? Von Montag bis Samstag werden täglich mindestens drei bis vier Bücher rezensiert, was im Jahr um die eintausend Rezensionen macht. Ein Mengenproblem gibt es also nicht, über alles andere, die Schwerpunkte der Auswahl, die Streubreite – Lyrik, kleine Verlage, fremdsprachige Ersterscheinungen, wissenschaftliche Disziplinen – sowie die Argumente kann man reden. Aber das wäre keine neue Diskussion, denn auch in den fabulösen 1960er oder 1990er Jahren war das alles umstritten.
Der Eindruck, dass früher mehr kritisches Lametta war, mag auch daher rühren, dass die programmatische Dimension der Kritik derzeit wenig ausgebildet ist. Oft wird Rezensenten vorgeworfen, sie hätten sich als »Gatekeeper« des öffentlichen Diskurses aufgespielt oder seien es sogar gewesen. Mit dieser Rolle ging traditionell eine hohe Selektivität einher. Bestimmte Schreibweisen, Bühnenauffassungen, Malstile oder Musikrichtungen wurden präferiert, andere stark abgelehnt. Wenn es gut ging mit Lessings »denn« und aufgrund von argumentativ ausgewiesenen Prinzipien. Rezensenten wie Karl Heinz Bohrer, Edwin Denby, Jean Paulhan, Benjamin Henrichs und Dieter Bartetzko waren über ihre einzelnen Texte hinweg nicht nur stilistisch identifizierbar.
Es ging ihnen um die Sache der Kunst. Heute ist es schwieriger zu bestimmen, worum es sich bei dieser Sache handelt. Wir leben in einer Zeit herabgesetzter Maßstäbe dafür, welche Rolle die Werke in unserem Leben spielen sollen. Das macht die Aufgabe der Kritik schwieriger. Umso wichtiger ist es, ihr den Raum dafür zu erhalten, diese Aufgabe zu erfüllen. Alles andere wäre Pessimismus, eine der dümmsten Einstellungen zur Kunst.