Comics sind aus der Gesellschaftskritik Argentiniens nicht wegzudenken. Einige der weltweit angesehensten Vertreter der Comic-Kunst entstammen der sogenannten »Argentinischen Schule«. Und der Comic ist in Argentinien längst eine anerkannte Kunstgattung.

Entstanden Ende des 19. Jahrhunderts in den USA, verbreitete sich die neue Kunstform mit ihrer innovativen Kombination von Bildfolgen, Lautmalerei und Figurensequenzen schnell. Argentiniens großer Zeitungsmarkt brachte Anfang der 1920er Jahre eine eigene Riege kreativer Zeichner hervor. Nach den Goldenen Jahrzehnten der 1940er bis 1960er Jahre behaupteten sich die Comics im Widerstand gegen die Diktatur in den 1970er Jahren. Die bekannten argentinischen Comics sind vor allem eins: politisch.

Zu Beginn meiner Amtszeit als Präsidentin der Akademie der Künste ließ ich Szenen aus einigen Comic-Klassikern auf die Glasfassade des Akademiegebäudes am Pariser Platz projizieren. Der damalige Programmbeauftragte Johannes Odenthal hatte mich gefragt, ob ich nicht einen künstlerischen Beitrag aus Argentinien, dem Land, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, zeigen möchte. Bei seiner Frage, was denn besonders für Argentinien sei, dachte ich sofort an Comics! Ich wählte für die Installation sechs argentinische Künstler aus, die seit den 1950er Jahren mit Humor, scharfer Kritik und visionärer Einbildungskraft ganze Generationen geprägt haben: den Schriftsteller Héctor Germán Oesterheld, die Zeichner Solano Francisco López und Alberto Breccia, Hugo Pratt und Quino sowie mit Miguel Repiso (REP) einen Vertreter der neuen Generation.

Diese Künstler haben biografische Wurzeln in Deutschland, Paraguay, Italien, Spanien und dem Libanon; in ihrer Kunst spiegelt sich das kritische Gewissen und das imaginäre Bewusstsein einer Einwanderungsgesellschaft.

Die Installation würdigte in ihrem Titel »Mafalda und Eternauta retten die Welt« vom 11. November 2015 bis 17. Januar 2016 die zwei bekanntesten argentinischen Comic-Figuren: Eternauta ist der Held in »El Eternauta« von Héctor Germán Oesterheld (1919-1978) und Solano Francisco Lopéz (1928-2011); die Science-Fiction-Geschichte spielt in Buenos Aires und erzählt von dem Widerstand gegen eine Invasion von Außerirdischen. Während der argentinischen Militärdiktatur repräsentierte die Figur des Eternauta den Widerstand gegen diese.

In einem Interview, das wir während der Vorbereitung der Fassadeninstallation führten, erinnerte sich REP daran, wie ihn das »Verschwinden« – die Militärdiktatur verschleppte und ermordete Intellektuelle und jeden, der irgendwie »links« war – Oesterhelds geprägt hat: Es war in den 1970er Jahren, REP war 15 Jahre alt, als er beim Récord Verlag arbeitete, für den Oesterheld Comics produzierte. Oesterhelds Töchter waren politisch aktiv, er schloss sich ihnen in der Widerstandsbewegung »Montoneros« an. Und eines Tages kam er einfach nicht mehr in den Verlag. Die vier Töchter waren bereits verschleppt worden, dann auch er, so berichtete REP: »Aber allmählich wurde mir einiges klar, ich hörte von den Müttern der Plaza de Mayo … Ich war auf dem Weg dahin, als ich mir bewusst darüber wurde, was eine Diktatur und was eine Demokratie ist, denn es war mir nicht einmal klar gewesen, dass es beides gibt. Und da wurde mir erst der Leidensweg von Oesterheld bewusst und der der Mütter. Da wurde ich politisch.«

So erinnert sich REP, der zu einem idealistischen Humanisten wurde, der heute in seinen Zeichnungen, unter anderem für die liberale Tageszeitung »Página 21«, die aktuellen Themen in ironische Distanz übersetzt.

Im Januar 2022 sprach Andrea Heinze im rbb-Interview mit mir und Nacha Vollenweider, einer jungen argentinischen Comic-Künstlerin, die erst nach der Militärdiktatur, in den 1980er Jahren geboren wurde. Und auch sie erzählte davon, dass sie der Eternauta stark beeindruckt habe, die Erzählung eines Helden, der in der Gruppe agiert, nicht als einzelner Superheld, der Zeitreisende, der sie die Geschichte Argentiniens besser verstehen lasse. Auf Deutsch erschienen ist der Comic »Eternauta« hierzulande übrigens im Berliner avant-Verlag auf Initiative von Johann Ulrich.

Ganz anders Mafalda, die weltbekannte Schöpfung von Quino, kurz für Joaquín Salvador Lavado. Mafalda ist eine universale Figur: ein sensibles und neunmalkluges, kleines, aufmüpfiges Mädchen, das alles infrage stellt in der Welt. Sie ist ebenso eine Kultfigur in Argentinien, aber auch weltweit. Sie benennt familiäre und gesellschaftliche Ungerechtigkeiten, Feminismus, Kolonialismus, Unmenschlichkeit und stellt nicht zuletzt die Frage, warum Argentinien auf dem Globus unten und nicht oben ist.

Diese Zeichner, von denen ich hier leider nur wenige exemplarisch nennen konnte, vertreten sehr unterschiedliche künstlerische Stile. Aber sie alle reflektieren für ein breites Publikum Politik, Geschichte und Gedächtnis. Wer genau hinsieht, wird verstehen, wie die Kunst des Comics, indem sie menschliche Geschichten erzählt, es schafft, die Welt zu retten.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2023.