Zwei Projekte der scheidenden Bundesregierung sind für mich Meilensteine der Kulturpolitik in Deutschland: Die Novellierung des Kulturgutschutzrechts durch das Kulturgutschutzgesetz (KGSG) aus dem Jahr 2016 sowie die gesamtstaatliche Strategie zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, deren Grundlage die im Jahr 2019 von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden verabschiedeten »Ersten Eckpunkte zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten« (Erste Eckpunkte) sind. Auf den ersten Blick gibt es keinen Zusammenhang zwischen beiden Vorhaben: Das Kulturgutschutzgesetz regelt, vereinfacht gesprochen, die Ein- und Ausfuhr von Kulturgut, während die »Ersten Eckpunkte« Ziele und Handlungsfelder für den Umgang mit Sammlungsbeständen deutscher Einrichtungen definieren, die aus kolonialen Kontexten stammen.

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass beide Texte von derselben Grundhaltung geprägt sind, die tatsächlich eine radikale Neuerung in der deutschen Kulturpolitik darstellt: Die bedingungslose Hochachtung und uneingeschränkte ethische Verantwortung gegenüber Kulturgut, das andere Staaten als »besonders wichtig« bezeichnen, wie es Artikel 1 des »Übereinkommens über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der unzulässigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut« der UNESCO aus dem Jahr 1970 formuliert. Das Kulturgutschutzgesetz aus dem Jahr 2016 trägt dieser Grundhaltung dadurch Rechnung, dass es erstmals in der Geschichte Deutschlands die zwischenstaatlichen Vereinbarungen der UNESCO-Konvention von 1970 konsequent und ohne Abstriche in nationales deutsches Recht umsetzt. Beispielhaft dafür ist der bemerkenswerte Paragraf 28 des KGSG. Er verbietet die Einfuhr von Kulturgut, wenn es von einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union oder einem Vertragsstaat der UNESCO-Konvention von 1970 »als nationales Kulturgut eingestuft oder definiert worden ist und unter Verstoß gegen dessen Rechtsvorschriften zum Schutz nationalen Kulturgutes aus dessen Hoheitsgebiet verbracht worden ist«. Mit anderen Worten: Kulturgut, das illegal – d. h., gegen die dort geltenden Gesetze – aus seinem Herkunftsstaat entfernt worden ist, kann unter keinen Umständen legal nach Deutschland eingeführt werden. Maßstab für die Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit der Einfuhr nach Deutschland sind demnach die gesetzlichen Bestimmungen des Herkunftsstaats.

Es ist genau dieser fundamentale Perspektivwechsel, der die Bedeutung von Kulturgut in seiner Herkunftsgesellschaft und die Umstände seiner Ausfuhr aus seinem Herkunftsstaat zum Ausgangspunkt des politischen Handelns macht, der das deutsche Kulturgutschutzrecht in Beziehung setzt zum rezenten Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten in Deutschland und auf konzeptioneller Ebene das KGSG mit den »Ersten Eckpunkten« verbindet. Historisch betrachtet, leitet sich dieser Perspektivwechsel aus postkolonialen Theorieansätzen ab, die in erster Linie auf gravierende Machtasymmetrien zwischen Staaten verweisen, die ihren Ausdruck stets auch in einer eingeschränkten kulturellen Souveränität des benachteiligten Staates finden. In diesem Zusammenhang hat Vincent Négri unlängst die UNESCO-Konvention von 1970 als wichtiges, frühes Instrument auf zwischenstaatlicher Ebene im Bemühen um eine »neue internationale kulturelle Ordnung« bezeichnet, die auch auf eine Kompensation für die »traumatische Geschichte« kolonialer Asymmetrien abzielt. Die »Ersten Eckpunkte« wiederum erkennen die besondere ethische Verantwortung, die sich für ehemalige Kolonialmächte aus diesen politischen und kulturellen Asymmetrien ergeben, dadurch an, dass sie unter anderem die Selbstverpflichtung der politisch Verantwortlichen enthalten, die »Voraussetzungen für Rückführungen von menschlichen Überresten und für Rückführungen von Kulturgütern aus kolonialen Kontexten« zu schaffen, »deren Aneignung in rechtlich und/oder ethisch heute nicht mehr vertretbarer Weise erfolgte«.

Was aber muss geschehen, damit die neue, ethisch weiterentwickelte Sicht auf das Kulturgut anderer Staaten, die im KGSG und den »Ersten Eckpunkten« zum Ausdruck kommt, den Herkunftsstaaten und Herkunftsgesellschaften auch tatsächlich zugute kommt und sich in konkreten Maßnahmen wie etwa der Rückführung von Kulturgut niederschlägt? Es sind aus meiner Sicht vor allem drei große Aufgaben, denen sich die kulturpolitisch Verantwortlichen in den kommenden Jahren in diesem Zusammenhang widmen müssen. Der erste und alles entscheidende Schritt muss sein, größtmögliche Transparenz und Rechenschaftsfähigkeit über die Anzahl, Herkunft und Erwerbungsumstände von menschlichen Überresten und Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten in Einrichtungen in Deutschland herzustellen. Mit der »3-Wege-Strategie« von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden sind erste Leitlinien dieses Prozesses vorgezeichnet. Gleichzeitig ist klar, dass diese Wege hin zur Transparenz nur mit einem erheblichen Zeit- und Mittelaufwand beschritten werden können. Sollte dieser Zeit- und Mittelaufwand in den kommenden Jahren nicht geleistet werden können, wird die in den »Ersten Eckpunkten« umrissene gesamtstaatliche Strategie zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten in Deutschland scheitern.

Fragen der Transparenz und Rechenschaftsfähigkeit stellen sich auch im Hinblick auf Kulturgut in deutschen Einrichtungen, das zwar nicht aus kolonialen Kontexten stammt, jedoch ohne offizielle Ausfuhrgenehmigung des jeweiligen Herkunftsstaates nach Deutschland eingeführt wurde. Wird es angesichts einer veränderten, gerade auch ethisch verantwortungsvollen Sichtweise auf Kulturgut anderer Staaten in Zukunft ausreichen, auf die Rechtmäßigkeit der Einfuhr gemäß den Stichtagen zu verweisen, die das KGSG festlegt? Oder wird man nicht vielmehr, gerade auch mit Blick auf die weitreichenden Aussagen zu den Bedingungen für die Rückführung von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten in den »Ersten Eckpunkten«, darangehen müssen, auch die Herkunft und Erwerbungsumstände derjenigen Kulturgüter aus anderen Staaten möglichst umfassend zu erforschen und offenzulegen, die bereits vor diesen Stichtagen von öffentlichen Einrichtungen in Deutschland erworben wurden, insbesondere dann, wenn es sich um Kulturgut aus Staaten des globalen Südens handelt?

Die zweite große Aufgabe in diesem Zusammenhang wird sein, diejenigen wissenschaftlichen Fachkompetenzen und personellen Kapazitäten aufzubringen, ohne die die notwendige Transparenz im Hinblick auf Art, Herkunft und Provenienz der entsprechenden Sammlungsgüter nicht erreicht werden kann. Viele dieser wissenschaftlichen Fachkompetenzen sind in sogenannten »Kleinen Fächern« angesiedelt, die kapazitär gestärkt, in manchen Fällen sogar neu eingerichtet werden müssten, um den bestehenden und zukünftigen Bedarf an wissenschaftlicher Expertise decken zu können. Entsprechendes gilt für Provenienzforscherinnen und -forscher, denen für die Bewältigung dieser Herausforderung eine zentrale Bedeutung zukommt, die sich aber nach wie vor meist mit befristeten, prekären Anstellungsverhältnissen begnügen müssen. Eine strukturelle Aufwertung der Provenienzforschung in Deutschland ist längst überfällig.

Insbesondere bei Sammlungsgütern aus kolonialen Kontexten stellt sich schließlich als dritte Zukunftsaufgabe die Erarbeitung von differenzierten, ethisch fundierten Regeln und Mechanismen für ihre Rückführung in die Herkunftsstaaten und -gesellschaften. Zu unterschiedlich und komplex sind die Erwerbungsumstände, zu gering ist nach wie vor die Einbeziehung der Herkunftsstaaten und -gesellschaften, um dieser Herausforderung zeitnah mit einfachen Instrumenten begegnen zu können. Ein wichtiges politisches Signal gerade an die Opfer von kolonialer Gewalt und Ausbeutung wäre es allerdings schon heute, wenn sich die ehemaligen Kolonialmächte in Europa wenigstens auf gemeinsame Leitlinien für die Rückführung von Sammlungsgütern aus kolonialen Kontexten verständigen könnten. Nichts weniger wäre der neuen Sicht auf diese Kulturgüter angemessen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2021-01/2022.