Industriekultur ist ein sehr facettenreiches Thema, an dem sich viele aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen festmachen lassen: Wie gehen wir mit Identifikationsorten um, die ihre Bestimmung verloren haben, wie aufgelassene Fabrikgebäude oder entweihte Kirchengebäude? Welche Transformation erfahren Stadtquartiere, die im Umfeld einer solchen Immobilie liegen; lässt sich diese aktiv gestalten? Wie wollen wir nach dem Ende der Industrialisierung und des Karbonzeitalters künftig leben, vor allem unter den Gesichtspunkten von Nachhaltigkeit und Klimaschutz?
Industriekultur ist als »Handlungsfeld« der Kulturpolitik indes erst in den 1980er Jahren ins Bewusstsein gekommen, einerseits als Bewegung »von unten«, indem Initiativen leer stehende Industriegebäude als Orte entdeckt und mitunter auch durch »Besetzungen« nicht selten gegen Widerstände bei politisch Verantwortlichen vor dem Abriss bewahrt haben. Zudem entstanden vielerorts Industriemuseen, die der Auseinandersetzung mit der Kultur-, Sozial- und Technikgeschichte des industriellen Zeitalters dienen. Inzwischen lassen sich in Deutschland viele tausend Industriestätten zählen, die umgenutzt worden sind, allein in NRW sind dies mehr als 3.500.
So ist es folgerichtig, dass die Förderung der Industriekultur mittlerweile auch in der Bundeskulturpolitik eine Rolle spielt. Bereits der Koalitionsvertrag 2018 von CDU/CSU und SPD hatte diese Aufgabe wie folgt formuliert: »Den Erhalt des baukulturellen Erbes über die Förderung von Denkmalschutz und -pflege wollen wir im Zusammenwirken mit den Ländern und unter Einbezug von Stätten der Industriekultur fortsetzen und ausbauen, ebenso wie die Förderung der UNESCO-Welterbestätten im Inland (…).« Damit sollte offensichtlich ein neues Kapitel für die Bundesförderung der Industrie- und Welterbestätten aufgeschlagen werden, steht doch bisher – und das seit mehr als 30 Jahren – das postkoloniale Erbe im Fokus der Bundesförderung. An den Stätten der Industriekultur kann indes die heutige postindustrielle Ära in ihrer Herkunft reflektiert und bewusst gemacht werden.
Bis dato waren industriekulturelle Standorte seitens des Bundes in der Regel nur im Hinblick auf Investitionen unter ganz bestimmten Voraussetzungen gefördert worden, insbesondere aus den Programmen zur Investitionsförderung und zu den »Nationalen Projekten des Städtebaus«. Aktuell besteht eine »Unwucht« in der avisierten Bundesförderung darin, dass zwar für die Industriekultur in den Braunkohlerevieren im Osten ein dreistelliger Millionenbetrag in Aussicht steht, während für die Industriekultur in Deutschland insgesamt bisher keine einheitliche Förderbasis geschaffen worden ist. Dies bedarf der Korrektur durch einen systematischen Förderansatz.
Ein Zeichen in diese Richtung war der allerdings erst am Ende der vergangenen Legislaturperiode im Juni 2021 vom Deutschen Bundestag gefasste Beschluss, mit dem die Bundesregierung aufgefordert wurde, ein Sonderprogramm »Lebendige Industriekultur« zu schaffen, und dieses mit 50 Millionen Euro jährlich auszustatten. Dieses Programm soll mit einer Vielzahl von Feldern ausgefüllt werden: investive Maßnahmen zur Kultur- und Denkmalpflege, welche auch den Wandel der Arbeitswelt sichtbar werden lassen, Vernetzung und Informationsaustausch, Förderung ausgewählter Projekte der Industriekultur als langfristige Aufgabe, Berücksichtigung von Aspekten wie Nachhaltigkeit, Vereinbarkeit von Denkmalschutz und Energieeffizienz, Barrierefreiheit, ehrenamtliches Engagement.
Dieser Beschluss sollte für die neue Legislaturperiode Vorbildwirkung entfalten: Eine wesentliche Aufgabe der neuen Bundesregierung könnte darin bestehen, das Thema »Industriekultur« als eine »Querschnittsaufgabe« in den Blick zu nehmen: Es gibt unterschiedliche Förderzugänge, eben nicht nur aus der Perspektive von Kultur, sondern auch von Denkmalschutz und Städtebau. Für diesen ganzheitlichen Förderansatz sollte eine fachlich versierte Instanz geschaffen werden. Darauf zielt der Vorschlag zur Einrichtung einer Bundesstiftung »Welterbe Industriekultur« ab, die auch Funktionen als generelle bundesweite Förderinstanz, Kompetenz- und Wissensplattform übernehmen könnte. Anlässlich eines Kongresses zur Industriekultur auf dem Welterbe Zollverein Mitte Oktober haben Vertreter der sieben industriekulturellen Welterbestätten eine Verlautbarung verabschiedet, die die Aufgaben und Wirkungsweise einer solchen Stiftung skizziert. Darin heißt es: »Mittels der neuen Dachstiftung kann ein europaweiter Austausch von Know-how systematisch erfolgen und eine Kompetenz-Bildung für sämtliche Stätten der Industriekultur in Deutschland sichergestellt werden. Die künftige Organisation kann als Motor für Transformationsprozesse fungieren und gleichzeitig die Ziele der Nachhaltigkeit und Resilienz verfolgen. Zentrale Aufgaben der Dachorganisation können sein:
- Einheitlicher Ansprech- und Förderpartner für den Bund
- Abstimmung der gemeinsamen Aufgaben und der Mittelverteilung, auch mit Blick auf die Industriekultur in Deutschland insgesamt
- Kultur- und Tourismusmarketing
- Wissensplattform für Förderung und Erhalt von Industriekultur zwecks Austausches, national und international (…)
Zugleich gibt diese Dachorganisation den sieben Welterbestätten mit ihren diversen Trägerkonstruktionen die Möglichkeit, im unmittelbaren Zusammenwirken gemeinsame Projekte zu erarbeiten und Standards zu setzen, um die Qualität der Förderung und des Erhalts der Industriekultur in Deutschland insgesamt weiter zu steigern.«
Das industriekulturelle Erbe erhält bisher nur einen Bruchteil der Förderung des postkolonialen Erbes, z. B. Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Schlösser und Gärten in Thüringen und Sachsen-Anhalt, das mit mehreren 100 Millionen Euro pro Jahr auch mit Blick auf den Betrieb der jeweiligen Institutionen finanziert wird. Die Förderung der Industriekultur als postindustrielles Erbe in ähnlicher Höhe ist als zeitgenössische Aufgabe dringend geboten.