Die Graphische Literatur – auch bekannt als die Ausdrucks- oder Kunstform »Comic« – sitzt hierzulande nach mindestens zwölf Dekaden ihrer Existenz noch immer am Katzentisch der künstlerischen Sparten. Keiner anderen Form sind so lange aus dermaßen vielen unterschiedlichen Richtungen derart viele verschiedene Vorbehalte entgegengebracht worden, sodass es bis heute nicht selbstverständlich ist, sich offen zu ihr zu bekennen – von denjenigen selbstredend abgesehen, die anstreben, mit dem Schreiben und Zeichnen von Comics, mit ihrem Übersetzen, ihrem Verlegen oder ihrem Verkauf ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Woraus sich das allgemeine Misstrauen speist?

Der Verfasser dieser Zeilen neigt der Theorie zu, dass die Graphische Literatur zwischen die Stühle dreier Wissenschaften geraten ist, nämlich der Literaturwissenschaft, der Kunstgeschichte und der Pädagogik, die jeweils vom Zentrum ihres Gegenstandsfelds dem Comic eine »Randexistenz« als »Literatur der Ungebildeten«, als »regressive Kunst« oder als »populistische Massenzeichenware« zugewiesen haben. Daraus abgeleitet hält sich bis heute hartnäckig das Gerücht, Comics seien eine »aus Bild und Schrift zusammengesetzte hybride Form«, in der vor allem Botschaften vermittelt werden sollen – zu denen dann aber weder »Unterhaltung« noch »das Einüben nichtlinearer ästhetischer Konzepte« gerechnet werden, also das, was Comics besonders gut können.

Stehen wir kurz vom Katzentisch auf und wechseln den Standpunkt: Was, wenn die aktuellen Comics die direktesten Nachkommen der ursprünglichen menschlichen Kommunikation mithilfe von Zeichen wären? Die Graphische Literatur hätte dann nicht nur eine »Ahnenreihe« vorzuweisen, die von den ersten Zeichen, welche mit einem Stock in den Sand gezeichnet oder mit einem Stein in Felswände geritzt worden sind, über Hieroglyphen, totemistische und apotropäische Zeichen auf Waffen oder an Tempelbauten sowie »serielle« Bildwerke wie die römischen Bildsäulen, den Teppich von Bayeux, die präkolumbischen Kodizes, christliche Kreuzwege und Ikonen, Holzschnittfolgen in Europa und Japan, Bänkelsangtafeln und Bilderbögen reichte, nein, auch die nichtgraphische Literatur und Gegenständliches zeigenden Tafelbilder und Gemälde wären, vom Comic her betrachtet, extreme Sonderformen der Narration mit Zeichen. Wir in Europa haben aus unseren Buchstaben fast alles Bildliche vertrieben, während unseren Gemälden die Fähigkeit zur epischen Erzählung weitgehend abhandengekommen ist. In der Graphischen Literatur gibt es immer noch beides. Davon abgesehen führt das »Aufdröseln« nach »Bild-« und »Schriftanteilen« in die Irre. Denn wenn Comics überhaupt Ähnlichkeiten zu einer der etablierten Kunstsparten aufweisen, dann zum Theater. Graphische Literatur ist dialogisch, ist gezeichneter Rhythmus, und sie zelebriert den Körper als Medium des Geistes, oder besser: viele Körper als Ausdruck vieler miteinander widerstreitender Gedanken. Goethe war ja bekanntlich begeistert von Rodolphe Töpffers Bildergeschichten, die als bedeutendes Kettenglied in besagter Ahnenreihe der Graphischen Literatur gelten. Das ist nicht verwunderlich, war Goethe doch mehr als alles andere ein Mann des Theaters.

Ein wichtiger Aspekt sollte bei der Beschreibung der Form »Comic« nicht übersehen werden: ihre technische Reproduktion. Tatsächlich gilt als »Geburtsstunde« dessen, was gemeinhin als moderne Ausfällung der Graphischen Literatur angesehen wird, die Vereinnahmung gezeichneter Bildgeschichten durch die US-amerikanische Zeitungsindustrie unter William Randolph Hearst und Joseph Pulitzer. Aus dieser axiomatisch gesetzten »Wiege« stammt zumindest der Vorbehalt gegen Comics als Ausgeburt einer erzkapitalistischen Kulturmaschinerie. Der Kurator und Comic-Archäologe Alexander Braun hat dementgegen erst kürzlich wieder darauf hingewiesen, dass die farbigen Familien- und Wochenendbeilagen der großen US-Tageszeitungen zu ihrer Zeit technologische Spitzenleistungen waren, die ihrem Publikum für wenige Cent die Teilhabe an modernsten Kulturerzeugnissen ermöglichten. Heute wäre etwa der Erwerb eines IMAX-3-D-Kinotickets oder eines VR-Headsets mit zugehöriger Software ungleich kostspieliger. In den US-Zeitungen haben sich zwei Formate herausgeschält: Zum einen die die Tradition der Bildtafeln und Bilderbögen fortführenden und weiterentwickelnden Sonntagsseiten, die oft bunt, plakativ und innovativ gestaltet waren, zum anderen die schwarz-weißen Strips, in denen nicht selten tagesaktuelles Geschehen kommentiert und veralbert wurde. Diese Strips, die, wie auch die Sonntagsseiten, über Syndikate landesweit vertrieben wurden, sind ab 1929 sporadisch in Heftform nachgedruckt worden, erst nur als Give-aways. Das erste Comic-Heft mit nachgedrucktem Material, das am Kiosk tatsächlich verkauft worden ist, war, im Juli 1934, »Famous Funnies #1«. Nicht, dass die Idee mit den Heftchen besonders originell gewesen wäre: Deren Formate, ihre Verlage und die Vertriebswege samt Verkaufsstellen waren alte Bekannte aus dem Geschäft mit Groschenheften, den Pulps. Und so ist es wenig verwunderlich, dass auch die frühen Comic-Hefte mit den gleichen Stoffen angefüllt waren, die sich bereits im Groschenheft gut verkauften: mit Verbrechen, Grusel, Mysteriös-Unheimlichem, Science-Fiction, Abenteuer, Western, Melodram, Herzschmerz und 1938 schließlich auch mit etwas Neuem, nämlich menschlichen Charakteren mit übermenschlichen Fähigkeiten, die sich gern in auffällig designte Strampler warfen und ihre Unterhosen oben drüber trugen. Nachdem in den 1950er Jahren praktisch alle genannten Genres einem pseudowissenschaftlich verbrämten Säuberungswahn zum Opfer gefallen waren, blieben die Superhelden als das Symbol der infantilisierten US-Heftchenkultur übrig. Aber selbstredend wurden auch außerhalb der USA die jeweiligen Traditionen des Erzählens in Bildern weiter gepflegt. Die verlegerische Heimat von Tintin war 1929 ein – vorsichtig formuliert – erzkonservatives katholisches Jugendmagazin. Und das sich an ein männliches, jugendliches Publikum richtende Magazinformat sollte in Belgien und Frankreich, aber auch im Vereinigten Königreich bis weit in die 1980er Jahre hinein die wichtigste Darreichungsform für Comics bleiben. In Japan hatte dagegen der »Gott des Story-Manga«, Osamu Tezuka, der zeitlebens die Aufführungen der rein weiblichen Takarazuka-Theatertruppen als wichtige Inspirationsquelle seiner Arbeit bezeichnete, bereits 1953 mit »Ribbon no kishi«, zu Deutsch »Ritter mit Schleife«, auch Mädchen als potenzielles Comic-Publikum ausgemacht und damit einen Grundstein für die globale Vermarktung japanischer Comics seit 1990 gelegt, die insbesondere durch Leserinnen ermöglicht wurde, welche sich durch von Männern gemachte Geschichten voller Pfadfinderromantik, Superhelden, Verkehrs- und Waffentechnik und vor allem Männerfantasien nicht angesprochen fühlten. Auch in Italien, in Argentinien und auf den Philippinen – um hier nur drei weitere Beispiele zu nennen – entwickelte sich von 1930 bis 1950 aus jeweils eigenen Erzähltraditionen heraus eine nationale, bis in die Gegenwart hineinwirkende Comic-Szene. Und in Deutschland? Da versuchte die NS-Propaganda die Sprechblase als »undeutsch« zu brandmarken und Bild und Schrift auseinanderzudividieren. Der Keim des Misstrauens gegen die Blase, das Symbol des Dialogischen im Comic, war gelegt, seine Saat sollte noch Jahrzehnte später stetig weiter aufgehen, beiderseits der Mauer und bis in einige, lieber predigende als diskutierende Graphic Novels hinein. Auch wenn es selbstredend meisterliche Beispiele für blasen- oder sogar annähernd schriftlose Graphische Literatur gibt – hier sei an so unterschiedliche Werke wie »Prince Valiant« von Hal Foster, an »Vater und Sohn« von e.o.plauen, an »Arzach« von Mœbius oder an »Gon« von Masashi Tanaka gedacht –, so macht das Dialogische der Form sie erst zu einem fortschrittlich-bürgerlichen, später dann zutiefst demokratischen Kommunikationsmittel.

Graphische Literatur sollte nicht ohne ihre Distributionsformen und -wege betrachtet werden. Comics wollen – anderslautenden Behauptungen zum Trotz, wonach zu ihrer Schöpfung lediglich Papier und Bleistift benötigt würden – vervielfältigt und verbreitet werden. Und falls sich jemand gefragt haben sollte, was der kurze Ausflug in die ausländischen Märkte in einem Artikel über Graphische Literatur in Deutschland zu suchen – hat – nun, 3.600 der 4.000 Comic-Titel, die im Jahr 2022 neu auf den deutschsprachigen Markt gelangt sind, also 90 Prozent –, sind nicht von einheimischen Zeichnerinnen und Zeichnern gestaltet und nicht von einheimischen Szenaristinnen und Szenaristen geschrieben worden. Der Markt für deutschsprachige Comics ist ein Lizenzmarkt, ein Markt, der Übersetzerinnen und Übersetzern Arbeit gibt, Lektorinnen und Lektoren, Letterern aller Geschlechter und Menschen aus Verlag und Herstellung. Wer dagegen Comics schreibt und zeichnet, muss seinen oder ihren Lebensunterhalt fast ausnahmslos durch besser oder zumindest sicher bezahlte Arbeit erwirtschaften, die nicht immer in der Nachbarschaft illustrativer oder erzählender Tätigkeit angesiedelt ist. Zu viele Vorbehalte gegen die Form sind hierzulande weiterhin der Graphischen Literatur Tod. Heute gibt es kein Genre, kein noch so exotisches Feld, das nicht von mindestens einem Verlag besetzt ist und bespielt würde. Comic-Reportagen erfreuen sich großer Beliebtheit – auch wenn nur wenige die durchschlagende Qualität von Art Spiegelmans »Maus« erreichen. Comics für Kids erobern sich langsam wieder ein Stück vom Kuchen. Auch jahrzehntealte Superheldenkost erreicht – als Merchandise zu DC-Extended- und Marvel-Cinematic-Universe-Blockbustern angepriesen – ein neues, jüngeres Publikum in ungeahnten Auflagenhöhen. Während aktuelle US-Comics zunehmend zu Sprungbrettern für Hollywood- und HBO- oder Netflixkarrieren verkommen. Und der Mangamarkt wächst und gedeiht. Wenig überraschend, ist der Comic weiterhin diejenige Form, in der alles Körperliche verhandelt wird. Ein großer Teil der auf den großen Märkten erstveröffentlichten Werke sind Comic-of-Age-Geschichten, in denen Heranwachsende oder Figuren mit jugendlichem Gemüt »erwachsen« werden oder sich irgendwie »beweisen« müssen. Relativ neu ist, dass die Verletzungen, die mit solchen »Initiationsriten« im wirklichen Leben regelhaft einhergehen, wie Zurücksetzungen, Ausgrenzungen, Verwundungen, Verstümmelungen, Vergewaltigungen, nicht mehr metaphorisch verbrämt werden. Es wird nicht mehr nur von Detektiven erzählt, die in irgendeiner Belle Époque einen Mörder finden, sondern auch von alleinerziehenden Müttern, die versuchen, nicht aus der Wohnung geworfen zu werden, von einer somalischen Sportlerin, die bei dem Versuch, an Olympischen Spielen teilzunehmen, im Mittelmeer ertrinkt, oder vom Kampf in den USA nach wie vor zurückgesetzter oder ausgegrenzter Personengruppen um Anerkennung. Und auch da, wo wir uns, nein, nicht im Herzen der Finsternis befinden, aber doch am Mittelpunkt eines Genres, werden Körper beobachtet, erprobt und dekonstruiert. Es gibt alle erdenklichen Arten von Metamorphosen und Wandlungen, die Tierfabel ist auch abseits der klassischen Disney-Charaktere lebendig wie eh und je. Nur eines geht angeblich gerade gar nicht mehr: »Gebrauchs-Comics«, also Pornos und explizit Erotisches. Dieses knapp hundert Jahre sichere Umsätze garantierende Marktsegment soll sein Publikum derzeit vollständig ans Internet verloren haben.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2023.