Haben Comics ein Geschlecht? Diese Frage mag zunächst absurd anmuten, schließlich handelt es sich bei Comics um eine künstlerisch-mediale und damit abstrakte Form, deren charakteristische Merkmale genauso vielfältig sind wie ihre zahlreichen Erscheinungsformen. Aufgrund der geschlechtlich codierten Klischees und Stereotype, die den modernen Comic seit dessen Entstehung im späten 19. Jahrhundert über unterschiedlichste historische Epochen und Genres hinweg geprägt haben, wird das populäre Bildmedium jedoch gemeinhin als »männlich« konnotiert wahrgenommen. Dies gilt genauso für die Inhalte als auch für die Produktions- und Rezeptionsebenedes Mediums. Besonders deutlich wird dies im comictypischen Genre der Superhelden. Die Vorlieben der überwiegend sowohl männlichen Leserschaft als auch männlichen Comic-Autoren widerspiegelnd, gehört etwa das Bild des besonders hilflosen, passiven, dafür aber umso attraktiveren, vollbusigen weiblichen Opfers genauso zum Standardrepertoire des Genres wie die Darstellung eines strahlenden, weißen, heterosexuellen, muskulösen Protagonisten, dessen Hauptaufgabe darin besteht, die Welt vor unsäglichem Unheil zu bewahren. Aber nicht nur die Superhelden-Comics des Mainstreams sind traditionell von reaktionären Geschlechterrollen durchzogen, die heteronormative Männlichkeit als erstrebenswertes Ideal propagieren. Auch die als Gegenkultur konzipier-ten Underground-Comics der 1960er und 1970er Jahre, die weißen männlichen Künstlern, wie etwa Robert Crumb oder Gilbert Shelton, die Möglichkeit des gestalterischen und inhaltlichen Tabubruchs boten, brachten oftmals sexistische Inhalte hervor und bestachen durch eine misogyne Atmosphäre, die Künstlerinnen den Zugang zum Medium nicht nur erschwerte, sondern in vielen Fällen sogar gänzlich verwehrte.

In der Tat handelte es sich lange Zeit bei den meisten Produzenten sowie Konsumenten von westlichen Comics um Männer. Die Branche fest im Griff, brachten sie patriarchale Strukturen hervor, die nur schwer zu durchbrechen waren und bis heute deutlich spürbare Spuren von Sexismus und Diskriminierung hinterlassen haben. Obwohl immer mehr Comics von Künstlerinnen geschaffen werden, die wiederum eine stetig wachsende Leserinnenschaft ansprechen und die Inhalte des Mediums um diversequeer-feministische Themen bereichern, wird der mehrheitsgesellschaftliche Diskurs noch immer von einer überproportionalen Wertschätzung männlicher Comic-Künstler dominiert. Von Kritikern als kreative männliche Genies gefeiert, führen sie regelmäßig sogenannte »Bestenlisten« im Feuilleton an oder werden – von überwiegend männlichen Jurymitgliedern – für bedeutende Comic-Preise nominiert, während weibliche und nonhegemoniale Comicschaffende mit einer unverhältnismäßig geringen Sichtbarkeit zu kämpfen haben. Ein Blick auf die internationale Kulturgeschichte des Mediums verrät jedoch, dass Zeichnerinnen und Autorinnen seit jeher einen tiefgreifenden und produktiven Einfluss auf die Entwicklung der Comics ausgeübt haben.

Der Lücke im Wissen über die Rolle von Frauen in der Geschichte der Comics widmet sich die von Lilian Pithan und Katharina Erben kuratierte Ausstellung »Vorbilder*innen: Feminismus in Comic und Illustration«, die im Mai 2021 erstmalig auf dem Comicfestival München zu sehen war. Nach Stationen in Berlin und Schwarzenbach an der Saale wurde die Wanderausstellung im Juni 2022 auf dem 20. Internationalen Comic-Salon in Erlangen gezeigt und lieferte dabei das Schwerpunktthema des renommierten Festivals, das zum ersten Mal seit seinem Bestehen »Feminismus und Geschlechtervielfalt« in den Mittelpunkt rückte. Mit dem Ziel, einen Beitrag zur Geschichtsschreibung von Frauen und nonbinären Personen aus queer-feministischer Perspektive zu leisten und Comic-Geschichte(n) über Frauen sowie Frauen in der Geschichte der Comics mehr Sichtbarkeit zu verleihen, präsentierte die Ausstellung zahlreiche Künstlerinnen, die mit ihren Werken den Comic zugleich bereichert und verändert haben. Neben Zeichnungen von Pénélope Bagieu, Alison Bechdel, Sheree Domingo, Julie Doucet, Anke Feuchtenberger, Aisha Franz, Lisa Frühbeis, Katja Klengel, Ilki Kocer, Ulli Lust, Rutu Modan oder Birgit Weyhe fanden sich unter den Exponaten auch Comic-Seiten der schwedischen Künstlerin und Politikwissenschaftlerin Liv Strömquist, die aktuell sicherlich zu den international prominentesten weiblichen Comicschaffenden zählt. Als Teil einer neuen queer-feministischen Welle nimmt sich Strömquist in ihren collagenartigen Comics einer Neudefinition von Geschichte und Geschichtsschreibung an, indem sie den männlichen Ursprungsmythos spielerisch dekonstruiert und dabei zugleich gekonnt die Vergeschlechtlichung historischer Narrative veranschaulicht, die stets mit dem Prozess der Geschichtsschreibung einhergeht.

Mit ihrem queer-feministischen Fokus auf weibliche Comicschaffende setzt die »Vorbilder*innen-Ausstellung« nicht nur ein längst überfälliges Zeichen für mehr Sichtbarkeit von Frauen, sondern steht auch beispielhaft für die zunehmende Diversifizierung der internationalen Comic-Landschaft. Frauen sind mittlerweile auf allen Ebenen präsent, heißt es dementsprechend im Begleittext zur Ausstellung: »Sie gewinnen wichtige Preise, veröffentlichen Bestseller, leiten Verlage und dominieren je nach Veranstaltungsthema das Publikum.« Seit einigen Jahren greifen etwa immer mehr Künstlerinnen erfolgreich auf die Form des autobiografischen Comics zurück, um ihre persönlichen und gleichzeitig politisch relevanten Geschichten zu erzählen, die oftmals außerhalb des hegemonialen Diskurses verortet sind. Verschiedene Initiativen und Künstlerinnenkollektive wie etwa das »Feministische Comic Netzwerk« oder »Die Goldene Discofaust« bündeln Ressourcen und kämpfen solidarisch gegen den Sexismus der Branche sowie exkludierende Strukturen an. Alternative Verlage unterstützen gezielt die Publikation von Comics marginalisierter Künstlerinnen und Künstler, und auch im Mainstream-Comic ist ein Trend zu mehr Diversität zu beobachten, der sich beispielsweise in der Neubesetzung klassischer männlicher Superhelden ausdrückt. So handelt es sich mittlerweile bei dem Don-nergott Thor um eine Frau, und auch Tony Stark alias Iron Man erhält mit der 15-jährigen Afroamerikanerin Riri Williams eine neue Nachfolgerin. Zudem halten immer mehr innovative Charaktere wie der Frauenkleider tragende Superheld Dragman, die Marvel-Heldin Squirrel Girl oder die muslimische Ms. Marvel Einzug auf den Comic-Markt und tragen damit ihren Teil zur Repräsentation neuer Figuren bei, die nicht länger dem massenhaft reproduzierten Klischee sexistischer Rollenbilder entsprechen und so das Geschlecht der Comics vielfältiger werden lassen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2023.