Die Bundeswehr ist mit ihrer Erinnerungskultur nicht im Reinen und wird dem bundesrepublikanischen Anspruch, eine Antwort auf die Verwerfungen der eigenen Geschichte zu sein, nicht gerecht.

Die Strukturen der Bundeswehr sind durch vergangene deutsche Armeen bestimmt. Allen voran ist sie durch die Wehrmacht geprägt. Truppengattungen, Dienstanzug, Panzernamen, Taktik: Die Wehrmacht als direkte Vorgängerin der Bundeswehr steckt überall. Die neu gegründete Bundeswehr wurde ausschließlich von Soldaten der Wehrmacht aufgebaut. Anders konnte es auch nicht sein.

Diese direkte Fortsetzung der deutschen Militärtradition wird durch die derzeitige Erinnerungspolitik unter den Teppich gekehrt. Die Bundeswehr soll sich nach Vorstellung der Politik am besten nur auf sich selbst und ansonsten auf Fußnoten in Geschichtsbüchern beziehen.

Erinnerung ist allerdings nicht gleich Tradition. Es ist richtig, dass die Wehrmacht als Täter und Werkzeug des Unrechts nicht Tradition stiften kann. Erinnerung bedeutet jedoch, sich bewusst zu sein, wo die eigenen Wurzeln liegen. Ein soldatisches Selbstverständnis kann nur aus diesem Bewusstsein entstehen.

Aber brauchen wir in der heutigen Zeit überhaupt noch Erinnerung?

Ja, denn wir brauchen soldatisches Bewusstsein. Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Die deutsche Kampfbrigade ist zum Jahr 2028 nach Litauen verlegt. Dies ist klare Absicht der Ampelkoalition. Um 03:14 Uhr werden die jungen Soldaten durch Alarmsirenen aus dem Schlaf gerissen. Die russische Föderation hat das Baltikum angegriffen. Die ersten Panzer haben die Grenze überschritten. In mittlerer Entfernung schlagen Kinschal-Raketen ein. Der Krieg hat begonnen. Von dem 21-jährigen Hauptgefreiten Konstantin wird nun Folgendes erwartet: Er soll seine Waffen gefechtsklar machen, in den hinteren Kampfraum seines Schützenpanzers einsteigen und auf die durchbrechenden russischen Panzerverbände zufahren. Überlebenswahrscheinlichkeit in den nächsten zwölf Stunden bei unter 40 Prozent. Das ist Befehl. Das ist Wille der Politik. Was soll einen jungen Menschen dazu bringen, dies zu tun?

Bringt die Vereinbarkeit von Familie und Beruf einen Menschen dazu, sein Leben einzusetzen? Kompensiert die Gleichstellung der Geschlechter verlorene Gliedmaßen? Wie soll ein Soldat, dem durch die Erinnerungskultur keine Bereitschaft zum Kampf vermittelt wurde, kämpfen können? Wie soll jemand, der in der Erinnerungskultur kein Blut und keine Toten kennt, diesen Anblick auf dem Gefechtsfeld ertragen?

Um im Gefecht bestehen zu können, brauchen Soldaten Leitbilder. Diese Leitbilder müssen sich an realen Personen und Gegebenheiten orientieren. Um ein Kämpfer zu sein, muss man Kämpfer vor Augen haben. Abstrakte Werte reichen da nicht. Wenn die Bundeswehr eine zur Verteidigung befähigte Armee sein soll, dann braucht sie auch eine militärische Erinnerungskultur. Sie muss ohne Angst auf die eigene Geschichte blicken können.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2023.