Steineiche, Blumenesche, Johanniskraut, Ährenveronika, Erdbeerbaum und Ginster: Mitten im Mailänder Zentrum, unweit des Bahnhofs Porta Garibaldi, sind in den vergangenen Jahren mehr als 800 Bäume und Tausende weitere Pflanzen in die Höhe gewachsen – an der Fassade und auf den Terrassen und Balkonen zweier Hochhäuser. Bosco Verticale, auf Deutsch »Vertikaler Wald«, heißt der spektakuläre Komplex aus dem Jahr 2014; entworfen hat ihn ein Architektenteam um den Italiener Stefano Boeri. Allein die Bepflanzung dauerte mehr als ein Jahr. Zuvor hatten Experten den Entwurf in einem Windkanal getestet, um sicherzustellen, dass das Grün auch stärkeren Böen standhalten kann. Die Türme, 116 und 84 Meter hoch, prägen nun nicht nur die Silhouette des neu entwickelten Stadtteils Porta Nuova. Ausgezeichnet mit dem Internationalen Hochhauspreis sind sie das vermutlich bekannteste Beispiel für den Trend zur vertikalen Begrünung.

Die Idee dahinter: Architektur selbst zum Träger und Nährboden von Pflanzen zu machen – zum Vorteil der Bewohner und der Natur. Begrünung kann die Luftqualität verbessern, die Staubbelastung verringern und als natürlicher Schalldämpfer wirken, sie spendet aber auch Schatten und lässt die Temperatur sinken. Wo Dachflächen zu Gärten werden, entstehen außerdem neue Erholungsräume für Menschen und Biotope für Insekten und Vögel.
Trotz dieser unzweifelhaften Vorteile stellt sich die Frage, wie viel eine Begrünung dieser Art am Ende für den Umwelt- und Klimaschutz tatsächlich bewirken kann – und was der richtige Ansatz für Stadtgrün im 21. Jahrhundert ist.

Zu oft ist Grün in zweifachem Sinne reine Fassade: »Greenwashing« hilft Maklern, ihre Bauten im Immobilienmarkt zu positionieren und Architekten, ihren Kunden neue Fassadenlösungen zu verkaufen – ohne dass der tatsächliche Nutzen klar wäre. Die Pflanzen des Bosco Verticale in Mailand etwa binden laut Stefano Boeri jährlich 30 Tonnen Kohlendioxid. So eindrucksvoll das klingen mag: Schon ein Economy-Flug von Frankfurt nach New York verursacht einen ökologischen Fußabdruck einer Tonne CO2. Ernüchternd sind in diesem Zusammenhang auch die Studienergebnisse von Martin Thiele, Absolvent der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde: »Bei einer realistischen Begrünung von zehn Prozent aller potenziellen Flächen und Standorte würden die Treibhausgasemissionen im Vergleich zum Jahr 2009 um eineinhalb Prozent reduziert werden«, hielt er bereits 2015 fest. Die Ergebnisse legen nahe, dass das Klimaschutzpotenzial von Begrünungen in einem dicht bebauten Wohnquartier unter realistischen Entwicklungsbedingungen nur einen geringen Beitrag zur Minderung von Treibhausgasen leisten kann.

Pflanzen an Gebäuden verursachen zudem erhebliche Kosten, für die am Ende die Nutzer aufkommen müssen. In einer Zeit, in der Mieten und Energiepreise stark steigen, wird es schwierig sein, dafür breite Akzeptanz zu gewinnen. Das Mailänder Projekt bezeichnete das Wirtschaftsmagazin Brandeins denn auch als »Edelforst für Besserverdienende«. Begrünungen an Bauteilen erfordern nicht nur aus ästhetischen Gründen kontinuierliche Pflege, sondern schon allein deshalb, weil die Pflanzen ansonsten die konstruktiven Träger beschädigen könnten. Kletterpflanzen wie Efeu besitzen die Kraft, aus Haarrissen in der Fassade einsturzgefährdende Fugen zu bilden. Obwohl Begrünungen in einigen Fällen zur Verbesserung der Wärmedämmung beitragen, besteht darüber hinaus die Gefahr, dass Feuchtigkeit in die Gebäudehülle eindringt. Nicht zuletzt: Die Bereitstellung einer geeigneten Bewässerungsinfrastruktur kann den Wasserverbrauch sogar erhöhen.

Stadtgrün im 21. Jahrhundert

Pflanzen einfach überall dort anzubringen, wo es technisch möglich und schön anzusehen ist, wird also kaum einen entscheidenden Beitrag zum Umwelt- und Klimaschutz leisten. Wenn wir bessere Lösungen finden möchten, müssen wir analysieren, wie sich unser kulturelles Verständnis von Stadtgrün verändert hat und welche Herausforderungen der Klimawandel mit sich bringt. Ein Beispiel: Große Rasenflächen, die eine intensive Bewässerung erfordern, könnten zukünftig aufgrund der heißen Sommer und langen Trockenzeiten sowohl volkswirtschaftlich als auch politisch nicht mehr vertretbar sein. Es ist erforderlich, sie durch andere Formen von städtischem Grün zu ersetzen. Für Landschaftsplaner mag die Debatte nicht neu sein. Aber Kommunalpolitiker, die bei städtischen Grünanlagen vor einem Dilemma stehen, müssen entscheiden zwischen Unterhaltskosten und Nutzerfreundlichkeit der öffentlichen Anlagen. Der Abschied von der urbanen Rasenfläche wird schmerzhaft, aber wohl unvermeidlich sein.

Stadtgrün im 21. Jahrhundert muss anders gedacht werden als noch zu barocken Zeiten, als Gartenarchitekten bei der Bändigung der Natur elitäre Paradiesgärten für wenige gestalteten. Es muss massentauglich und intensiv nutzbar sein. Das erfordert eine großmaßstäbliche Planung. Kaltluftschneisen, Stadtparks und urbane Wasserläufe galten in Zeiten der Industrialisierung als Antwort auf die zunehmende Belastung der Umwelt. Bis heute tragen diese gründerzeitlichen Beiträge zur Stadthygiene in vielen deutschen Großstädten dazu bei, dass das Klima im Sommer erträglich bleibt. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass sich längst nicht mehr nur Umweltschützer, sondern auch Stadtplaner und Architekten für den Schutz dieser Freiräume einsetzen.

So war es dem Berliner Senat nach der Wende in den 1990er Jahren ein besonderes Anliegen, die traditionellen Kaltluftschneisen in der dicht bebauten Innenstadt zu erhalten. Ein prominentes Beispiel ist der Bereich zwischen dem Bahnhof Südkreuz und dem Spreebogen. Andere Großstädte wie Bremen, Köln und Frankfurt wiederum profitieren noch heute von den Grüngürteln, die nach dem Abriss der Wallanlagen entstanden sind. In Frankfurt stellt sich derzeit die Frage, wie die grüne Lunge der Innenstadt weiterentwickelt werden kann. Der Frankfurter Zoo lässt derzeit von Dan Pearlman einen Masterplan erarbeiten, in dem auch die Frage geklärt wird, inwieweit die Grünflächen mit Tropenhallen überbaut werden können und Teile des alten Baumbestands gefällt werden müssen. Der Architekt ist bekannt dafür, weltweit Zooanlagen zu planen und Fauna und Flora zusammenzudenken. Man muss in diesem Fall abwägen, was Priorität besitzt: ein exotisches Tier auszustellen oder einen mitteleuropäischen Baum zu erhalten.

Fauna und Flora als Bildungsauftrag

Es ist wichtig, dass wir uns darüber im Klaren sind, dass unsere städtischen Landschaften anpassungsfähig sein müssen, um den Auswirkungen des Klimawandels zu begegnen. Wir sollten uns auf die Entwicklung und Umsetzung von städtischen Grünflächen konzentrieren, die weniger Wasser benötigen und widerstandsfähiger gegen Hitze und Trockenheit sind. Dabei sollten wir auch die Vorteile der biologischen Vielfalt berücksichtigen und städtische Ökosysteme schaffen, die Insekten und Tieren einen Lebensraum bieten. Das Thema Stadtgrün darf nicht bei Straßenbaum und Stadtteilpark enden. Erst ein breites Bewusstsein dafür, dass der Verzicht auf versiegelte Flächen zu einem besseren Mikroklima führt, kann spürbare Veränderungen bewirken. Das reicht von der Wildblumenwiese, die vom Grünflächenamt bewusst als solche gepflegt wird, bis hin zu Medienkampagnen.

Längst gehört es zum guten Ton, dass große Konzerne und Medienanstalten sich mit dem Thema Stadtgrün auseinandersetzen. Kürzlich hat die Wochenzeitung Die Zeit eine umfangreiche Initiative mit dem vielversprechenden Titel »1 m2 Grün« ins Leben gerufen. Über mehrere Monate hinweg hat die Redaktion gemeinsam mit einem Expertenteam aus Architekten, Raumplanern, Naturschützern und Wissenschaftlern daran gearbeitet, eine Auswahl einheimischer blühender Pflanzen zusammenzustellen, die dann einer Ausgabe beigelegt wurde. Die Leser sollen in den kommenden Monaten einen beliebigen Quadratmeter bepflanzen und die Veränderungen beobachten. Eine moderne und aufgeklärte Gesellschaft muss ein Bewusstsein für die biologische Vielfalt unseres Planeten entwickeln – warum sollte dieser Prozess nicht auf Balkonen beginnen? Die Einsichten, die wir aus der Beschäftigung mit der Natur im Kleinen beziehen, wecken den Ehrgeiz für das Schaffen von mehr Grünflächen und Gärten, auch und besonders in den Städten.

Welchen Einfluss die Zeitungsredakteure und ihr wissenschaftliches Team auf das Stadtgrün im Sommer 2023 haben, wird sich in den kommenden Monaten zeigen. Noch wichtiger ist jedoch ein anderer Aspekt: Es geht um die Verbreitung und praktische Anwendung einer Idee, die bereits seit den 1970er Jahren von Ökologen diskutiert wird: Bildung muss im jungen Alter beginnen, und Vermittlung von Wissen über die Natur sollte dabei einen besonders hohen Stellenwert erhalten. Am besten schon im Kindergarten.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2023.