Comics über den Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust sind kein neues Phänomen, sie entstanden mitunter schon zeitgleich zu den Ereignissen, denkt man an die amerikanischen Superhelden-Comics als Reaktion auf die NS-Aggressionspolitik oder, sehr viel konkreter, an ein Comic wie »Mickey au Camp de Gurs«, das Gurs-Häftling Horst Rosenthal bereits 1942 schuf. In Gettos und Lagern fertigten Häftlinge zudem Bilder an, um den Schrecken darzustellen und zu bezeugen.

Gewissermaßen der Klassiker der Auseinandersetzung mit dem Holocaust in einer Graphic Novel ist »Maus«, dessen Schöpfer Art Spiegelman darin die Überlebensgeschichte seines Vaters Vladek Spiegelman darstellt, basierend auf Interviews und Recherchen des Sohnes, und der dafür 1992 den Pulitzerpreis erhielt. Spätestens seitdem sind Comics für viele ein anerkanntes Medium auch für dieses schwierige Thema. Diskussionen gibt es freilich nach wie vor, im Fall von »Maus« etwa über die Frage, ob es angemessen ist, die jüdischen Verfolgten als Mäuse, die deutschen Wachen als Katzen und die Polen als Schweine darzustellen. Dennoch: Das Genre boomt. Ole Frahm, Hans-Joachim Hahn und Markus Streb haben mehr als 400 Comics identifiziert, die auf die eine oder andere Art den Holocaust thematisieren, davon allein mehr als 50 Comics über Anne Frank. Künstlerinnen und Künstler experimentieren mit verschiedenen Darstellungsformen, rücken zunehmend ab vom klassischen Layout einer Comic-Seite mit stets gleicher Panelstruktur. Gerade für Fragen von Erinnerung und Zeitzeugenschaft bieten sich hier großartige Möglichkeiten, auch etwa Leerstellen und offene Fragen darzustellen. Mitunter werden Fotografien oder Dokumente in die grafische Narration eingebaut, wie dies etwa Nora Krug in ihrer Graphic Memoir »Heimat« so eindrucksvoll macht.

Die Frage, was Graphic Novels leisten können in der historischen Darstellungund besonders auch in der Vermittlung, hat mich als Historikerin, die seit Jahren über den Holocaust forscht, besonders interessiert, als ich Teil des Projektes »Narrative Art and Visual Storytelling in Holocaust and Human Rights Education« wurde, das von der University of Victoria in Kanada unter Leitung der Literaturwissenschaftlerin Charlotte Schallié koordiniert wird.

Barbara Yelin, Miriam Libicki und Gilad Seliktar haben in diesem Projekt die Geschichte von Emmie Arbel, David Schaffer sowie Nico und Rolf Kamp, die als Kinder den Holocaust überlebt haben, grafisch dokumentiert. Doch nicht nur das: Sie dokumentieren auch ihre Begegnungen und Gespräche und damit den komplizierten Prozess des Erinnerns. In ihren einfühlsamen und zugleich eindrucksvollen »Graphic Narratives« wird sehr deutlich, wie die Vergangenheit und die Gegenwart permanent ineinandergreifen, wie Erinnerung verschwimmt, doch stets präsent ist. Und auch voneinander abweichende Erinnerungen wie im Falle der Brüder Nico und Rolf Kamp oder fehlende Erinnerungen – Emmie Arbel sagt mehrfach: »Ich erinnere mich nicht« – können in diesem Medium einfühlsam thematisiert werden, ohne die Überlebenden bloßzustellen. Der Comic erweist sich als überaus geeignetes Medium, um den Konstruktionscharakter von Erinnerung zu reflektieren, um über Zeitzeugenschaft nachzudenken.

Sicherlich sind Comics kein Allheilmittel gegen potenzielles Desinteresse junger Leute an der Geschichte. Aber sie sind eine fantastische Möglichkeit, Emotionen und Interesse zu wecken. Dies kann ein wichtiger Anfang sein, zumal in einer Zeit, in der über das Ende der Zeitzeugenschaft diskutiert wird und damit einhergehend über die Frage der Zukunft der Erinnerung und der Vermittlung. Das internationale Projekt »Narrative Art and Visual Storytelling in Holocaust and Human Rights Education« geht auch nach der Publikation dieser Graphic Novels in englischer und deutscher Sprache weiter. Pädagogische Handreichungen und Unterrichtsmaterialien werden entwickelt, weitere Überlebendengeschichten sollen grafisch erzählt werden. Der Fortgang des Projekts kann auf der Seite holocaustgraphicnovels.org verfolgt werden.

Emmie Arbel hat als junges Mädchen die Lager Westerbork, Ravensbrück und Bergen-Belsen überlebt. Ihre Mutter starb wenige Tage nach der Befreiung vollkommen geschwächt in Bergen-Belsen. Über ihre Beteiligung am Projekt sagt Emmie Arbel, die heute in Israel lebt: »Barbara und ich beschreiben in der Graphic Novel, dass ich in den Lagern fast gestorben wäre. Als man mich fragte, ob ich an diesem Projekt teilnehmen würde, gefiel mir die Vorstellung, dass meine Geschichte als Comic erscheinen würde, überhaupt nicht. Ich dachte, Comics seien nur für Kinder. Aber je mehr ich darüber nachdachte, desto besser verstand ich, warum Comics so wirkungsvoll sind. Inzwischen finde ich, es ist eine wunderbare und kreative Idee, Erwachsene und vor allem Kinder zu erreichen, die nicht gerne Bücher lesen. Comics erleichtern es auch, im Schulunterricht dieses schmerzliche Thema zu vermitteln. Darum habe ich beschlossen, mitzumachen.«

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2023.