Am 8. Dezember 1971 fand an der Technischen Universität Berlin ein »Teach-In« statt. Anlass der studentischen Versammlung war der Tod des jungen »Stadtguerilleros« Georg von Rauch, der vier Tage zuvor bei einem Schusswechsel mit der Polizei in Berlin-Schöneberg ums Leben gekommen war. Für die meisten Versammelten war klar, dass hier ein »faschistischer« Staat einen politischen Mord begangen hatte. Eine Reaktion musste her. Flugblätter wanderten durch die Reihen, in denen zur Besetzung eines leerstehenden Schwesternwohnheims in Kreuzberg aufgerufen wurde. Die Studierenden zogen los und besetzten das Bethanien.

Es entstand ein selbstverwaltetes Wohnkollektiv, in dem vor allem Jugendliche unterkommen sollten, die mit ihren Eltern und dem Staat in Konflikt geraten waren. Bis zu 50 Menschen konnten gleichzeitig in dem besetzten Haus leben, das fortan »Georg-von-Rauch-Haus« genannt wurde. Hausbesetzungen hatte es im Jahr zuvor bereits im Frankfurter Westend gegeben. Das Vorbild waren Hausbesetzungen in London und Amsterdam. Nun gab es auch in West-Berlin ein besetztes Haus.

Die Band »Ton Steine Scherben« verewigte das besetzte Haus in ihrem »Rauch-Haus-Lied«, das zu einer Hymne der Hausbesetzerbewegung wurde. Frontmann Rio Reiser besang in dem Song den Widerstandsgeist der Besetzer und mobilisierte gegen einige Immobilienunternehmer in Kreuzberg: »Doch die Leute im besetzen Haus / riefen: ›Ihr kriegt uns hier nicht raus! / Das ist unser Haus, schmeißt doch endlich / Schmidt und Press und Mosch aus Kreuzberg raus.‹«

Tatsächlich blieben die Besetzer im Georg-von-Rauch-Haus und erhielten Nutzungsverträge. Ende der 1970er Jahre folgten immer mehr Menschen diesem Vorbild und besetzten Häuser in West-Berlin. Die zweite Welle der Hausbesetzungen setzte ein. Jetzt waren es meist leerstehende Mietshäuser, die besetzt wurden. Neu war außerdem, dass sich viele Besetzer daran machten, die sanierungsbedürftigen Häuser selbst instand zu setzen. Der Begriff »Instandbesetzer« wurde geboren.

Auf dem Höhepunkt der Bewegung 1981 waren in West-Berlin 169 Häuser besetzt. Doch der Berliner Senat ging von nun an immer konsequenter gegen Hausbesetzungen vor. Der »Berliner Häuserkampf« entbrannte und eskalierte, als der junge Hausbesetzer Klaus-Jürgen Rattay am 22. September 1981 ums Leben kam, weil er unter einen fahrenden BVG-Bus geriet. Ähnlich wie zuvor Georg von Rauch wurde auch Rattay zu einem Märtyrer der Hausbesetzerbewegung, die zunehmend in zwei Lager zerbrach. Die einen suchten Verhandlungen, um die Besetzungen zu legalisieren. Die anderen lehnten jedwede Verhandlungen kategorisch ab und verstanden die Besetzungen als Klassenkampf.

Besetzungen gab es jedoch nicht nur im Westen, sondern auch in Ost-Berlin. Insbesondere in den Altbauvierteln existierte die Praxis des Schwarzwohnens. Das waren illegale Wohnungsbesetzungen, die den massiven Leerstand in den alten Mietskasernen ausnutzten. Dies ließ eine Praxis gedeihen, die die zentrale Wohnungsvergabe in der DDR umging. Menschen schnappten sich einfach einen »Dittrich«, sperrten leerstehende Wohnungen auf und nahmen sie für sich in Besitz.

Die Behörden schritten nur in seltenen Fällen ein und tolerierten die Praxis des Schwarzwohnens weitgehend. Sie verhielten sich allerdings nur dann ruhig, wenn die Wohnungsbesetzungen still und leise erfolgten. Im Gegensatz zu den öffentlichkeitswirksamen Hausbesetzungen in West-Berlin wurde um die Wohnungsbesetzungen im Osten nur wenig Aufhebens gemacht. Das Schwarzwohnen war ein verborgenes Phänomen.

Das änderte sich erst mit dem Fall der Mauer. Von nun an wurden auch im Osten Berlins ganze Häuser besetzt und lautstark reklamiert. Die dritte Besetzerwelle brach an. 1990 gab es etwa 140 besetzte Häuser in Ost-Berlin, fast genauso viele wie knapp zehn Jahre zuvor in West-Berlin. Am meisten besetzte Häuser gab es in der Mainzer Straße in Friedrichshain. Hier wurde ein ganzer Straßenzug mit zehn aufeinanderfolgenden Häusern und zwei gegenüberliegenden Gebäuden besetzt. Im November 1990 wurde die Mainzer Straße jedoch von einem großen Polizeiaufgebot geräumt. Es war gleichermaßen der Höhepunkt wie auch der Endpunkt der Hausbesetzerbewegung.

Neue Besetzungen gab es danach kaum mehr. Einige Hausprojekte wurden legalisiert und erhielten Mietverträge. Heute gehören die Häuser aber oft neuen Eigentümern, die wenig Sympathie für die linken Hausprojekte zeigen und Räumungen durchsetzen. So gibt es in Berlin immer wieder Auseinandersetzungen zwischen Besetzern und der Polizei. Manche der Parolen und Protestformen erinnern dabei stark an die 1980er Jahre. Der Mythos der Hausbesetzungen ist noch immer lebendig. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Situation seither fundamental gewandelt hat. Es gibt kaum noch leerstehende, unsanierte Häuser, die überhaupt noch besetzt werden könnten. Hausbesetzungen sind daher heute weitgehend Geschichte.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2025.